Wenn der Realist zum Neurotiker wird

Für Lars von Trier gab er den luziden Melancholiker unter all den „Idioten“, nun spielt Jens Albinus den hölzernen Ehemann in der Inszenierung von Strindbergs „Der Vater“ in der Volksbühne. Ein Porträt des dänischen Schauspielers, bei dem selbst philosophische Betrachtungen wie Musik klingen

von ESTHER SLEVOGT

Im dritten Stock der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gibt es im Augenblick eine auf drei Personen und den Kern der Handlung geschmolzene Fassung von Strindbergs Tragödie „Der Vater“ zu sehen, die an sich nicht besonders bemerkenswert ist. Aber sie hat zwei bemerkenswerte Schauspieler: Anne Tissmer als Extremneurotikerin Laura und den dänischen Schauspieler Jens Albinus als ihr hölzerner Ehemann, den sie so lange für verrückt erklärt, bis er es wirklich ist. Albinus wirkt auch deshalb so hölzern, weil er mit den Tücken einer Sprache kämpft, die nicht seine eigene ist: sondern von einem Übersetzer namens Heiner Gimmler stammt. Ein antiquierter und gestelzter Ton, der gar nicht zu den modernen Menschen passt, die Jenny Nörbecks Inszenierung aus Strindbergs Figuren machen wollte. Albinus hat man aber noch aus Lars von Triers Film „Idioten“ als luziden Melancholiker im Gedächtnis, der mit einer Gruppe junger Leute in einem Haus in der dänischen Provinz die Grenzen zwischen Theater, Wahn und Normalität sprengt.

Also trifft man ihn in einem Café in der Nähe des Theaters. Erstaunt über eine Begrüßung in Englisch, wo man ihn doch am Abend zuvor noch auf der Bühne deutsch sprechen hörte, erfährt man, dass alles bloß auswendig gelernt war. Er selbst ist amüsiert darüber, und sein Englisch ist fließend. Und ganz und gar nicht hölzern. Trotzdem wirkt Albinus immer ein wenig melancholisch.

Man hört ein paar anerkennende Worte über die Volksbühne. Und er erzählt, wie dort Ideen sofort realisiert würden, ohne Rücksicht darauf, ob’s was wird oder nicht. Ein aktueller Misserfolg sei ja immer noch spannender als ein antiquierter, sagt er sibyllinisch. Und wir wollen mal offen lassen, ob er das auf die aktuelle Strindberg-Inszenierung bezieht. Er mag die Theorielastigkeit der Volksbühne, doch er findet sie auch typisch deutsch. „Wir beginnen bei uns auch oft mit einer Theorie, aber dann kommt sie uns im Laufe der Arbeit einfach abhanden.“

Ein paar Freundlichkeiten über Berlin und all die übereinander gelagerten Traumata dieser Stadt, die sie so spannend machten, fallen ungefragt in die Unterhaltung. Wahrscheinlich findet Albinus, dass solche Sätze dringend in ein Interview für den Kulturteil einer Berliner Zeitung gehören. Aber dann geht es um das, was ihn wirklich interessiert: um Skandinavien, weiße Nächte, um Naturalismus und nordische Melancholie.

Jens Albinus ist nicht bloß Schauspieler, unter anderem am Königlichen Theater in Kopenhagen, sondern er produziert und schreibt auch selbst Theaterstücke. „Neurotischer Realismus“ ist seine Einordnung der eigenen Texte, „Updates“ von 1880er-Stoffen könnte man sagen – also von Hamsun, Ibsen oder Strindberg. Weil ihm eine bestimmte Sorte Stücke fehlte, fing er selbst an, welche zu schreiben. „History of Infamy“ zum Beispiel hieß eine Variation über ein Knut-Hamsun-Thema.

Jens Albinus spricht sehr suggestiv über seine Arbeit. Er sagt meistens „wir“, bloß wen er damit meint, ist schwer aus ihm herauszukriegen. Man müsste mal eins seiner Stücke lesen, denkt man noch, und fragt weiter. Besonders der Begriff „neurotischer Realismus“ klingt viel versprechend. Auch im Hinblick auf hiesige Realismusdebatten. Aber die Fragen verlieren sich in der Weite Skandinaviens. Zurück kommen philosophische Betrachtungen. Sie klingen eher wie Musik und können letztlich die Neugier nicht befriedigen.

Und weil wir irgendwann mal wieder bei Strindberg angekommen sind, sind wir auch bei der unvermeidlichen Frage, wie er als Schaupieler an die Volksbühne gekommen sei. Albinus beginnt mit Lars Norén. Er erzählt von dem Theatermann und Dramatiker, der mit einer Theatergruppe aus Häftlingen durch Schweden tourte, und wie die Häftlinge das nutzten, um ein weiteres Verbrechen zu begehen, eine Bank zu überfallen und einen Menschen zu erschießen. Da sieht man, sagt Albinus dann, wie der Wohlfahrtsstaat schon in die Kunst und Künstlerköpfe eingedrungen ist: dass jemand glaubt, Kunst könnte etwas heilen oder irgendjemand retten.

Und wie hing das mit der Arbeit an der Volksbühne zusammen? „Sehen Sie“, sagt da der neurotische Realist und lacht, „jetzt habe ich eine Geschichte erzählt, und die Journalistin stellt fest, dass es keinen Zusammenhang mit ihrer Geschichte gibt!“

Letzte Vorstellungen von „Der Vater“ am Mi./Do./Sa., 21 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, 3. Stock