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Wenn Utopien an der Realität scheitern

Aktivistische Mikro-Welten gegen Krise und Zerstörung: Das Kunstmuseum Wolfsburg setzt sich mit dem Recht auf Hoffnung in der Kunst auseinander

Rituelle Ballonfahrt: Der argentinische Performer Tomás Saraceno dokumentiert indigenen Protest gegen Lithiumabbau Foto: Aerocene Foundation/CC BY-SA

Von Bettina Maria Brosowsky

Historisch betrachtet war das Aufkommen von Utopien meist eng mit der Unzufriedenheit über eine als negativ empfundene Gegenwart verbunden. So lautet der erste Satz im einleitenden Text der Begleitpublikation zur Ausstellung „Utopia. Recht auf Hoffnung“ im Kunstmuseum Wolfsburg. Zynisch gesagt, müsste es in unseren an Kriegen, Krisen und dem Erodieren politischer Verlässlichkeiten so reichen Zeiten ja nur so strotzen vor Utopien. Dem aber ist nicht so, zumindest kommt die Ausstellung nicht mit visionären Heilsversprechen daher. Vielmehr müssen sich Be­su­che­r:in­nen viel Zeit nehmen, um sich in der großen Halle sowie auf der Empore auf rund 110 Werke von 59 Künst­le­r:in­nen und Kollektiven einzulassen, auf Malerei, Fotografie, Zeichnung, Grafik, Skulptur oder auch Keramik sowie Videoinstallationen. Und viele Beiträge, eigentlich: assoziative Versuche zum Thema, kommen nicht aus Westeuropa. Obwohl dem einst, eingedenk des britischen Juristen, Diplomaten und Philosophen Thomas Morus (vermutlich 1478–1535), der Topos „Utopia“ entsprang: das Idealbild einer fernen Gesellschaft sowie die Satire der gegenwärtigen.

Und hier blühten auch, wenn nicht zwangsläufig real existierend, so doch auf dem Papier, Bau-Utopien gemeinschaftlichen Lebens in französischen Familistères, deutschen Einküchen- oder Kommunehäusern eines sowjetischen Konstruktivismus. An letzteren erinnert das kleine Drahtmodell in Gipsummantelung der russischen Gruppe Chto Delat,das recht verloren am Zutritt der Ausstellung steht. Die Losung Lenins „Was tun“ zum Gruppenlabel erkoren, appelliert ihre Miniatur des Monuments der III. Internationale, von Wladimir Tatlin anno 1920 als 400 Meter hoher, in der Erdneigung dynamisierter Turm gedacht, daran, nach dem Scheitern des sozialistischen Traums nicht die Hoffnung auf eine bessere Welt aufzugeben.

Utopia. Recht auf Hoffnung: bis 11. 1. 26, Kunstmuseum Wolfsburg, www.kunstmuseum.de; Begleitpublikation für 39 Euro im Museumsshop

Die Gruppe steuert auch ein allegorisches Video bei: Exil-Russ:innen, die 2022 ihre Heimat verließen, versuchen in Hettstedt, Sachsen-Anhalt, Bilder aus Werner Tübkes zwischen 1976 und 1987 geschaffenem, 123 Meter langem Bauernkriegspanorama nachzustellen. Das gilt einer gescheiterten Hoffnung, der Niederlage gegen Leibeigenschaft und Ausbeutung aufbegehrender Bauern unter Thomas Müntzer, 1525. Dennoch blieb der Bauernkrieg im historischen Gedächtnis, wurde Triebkraft späterer Revolutionen in Europa. Die humorvolle russische Re-Inszenierung will anregen, „sich neu vorzustellen, was möglich ist“. Auf die Niederlage folgt vielleicht ein Sieg, auf Verzweiflung erneute Hoffnung – auch in Russland?

Viele Exponate zeigen umgesetzte Mikro-Utopien. Die Schweizerin Ursula Biemann etwa dokumentierte in ihrem Video das Gerichtsverfahren, initiiert von Indigenen Ecuadors, das letztlich ein Schutzrecht des Urwaldes im Amazonasgebiet anerkennt. Der argentinische Performer Tomás Saraceno, zwischen 2014 und 2016 Vertretungsprofessor im Fachbereich Architektur der TU Braunschweig, unterstützt in seinem Heimatland indigene Gemeinschaften, die gegen den Lithiumabbau und seine Umweltschäden antreten. Er begleitete 2020 die ritualisierte Protestfahrt einer schwarzen Ballon-Skulptur, die einzig über die Selbsterhitzung durch die Sonne betrieben wurde. Ihr Slogan: Wasser und Leben sind mehr wert als Lithium.

Die Rettung Geflüchteter im Stil neapoli­tanischer Porzellankunst in der Serie „Mare Mediter­raneum“ Foto: Alexander Lepeshkin © AES+F | ARS New York

Der Naturaktivist und zeitweilige Professor für Kunstpädagogik, Hermann Weber, beschreibt in einem großen, handschriftlichen Bildband eine ganz private Utopie: das mehrjährige Zusammenleben mit einer von ihm aufgezogenen und ausgewilderten männlichen Krähe und dessen Gefährtin.

Es sind also keine ästhetisch fantastischen Gedankenspiele mehr, in denen Missstände bildgewaltig aufgehoben werden, die Künst­le­r:in­nen heute bewegen, sondern kleinteilige aktivistische Momente im Dienste politischer Transformation. In der Begleitpublikation werden weitere utopische Momente skizziert, so eine „Bauwende“. Sie will nachwachsende Baustoffe verwendet wissen, oder noch besser: gleich auf Neubau verzichten und den Bestand umprogrammieren. Wie weit allerdings solche Ideen (noch) ferne Utopie sind, lässt sich nur wenige Schritte vom Kunstmuseum entfernt in Wolfsburgs Fußgängerzone erleben: auf einer „Flächensanierung“ alten Schlages entsteht hier der erste Bauabschnitt eines weiteren Einkaufsparadieses, das eigentlich niemand mehr braucht.

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