: Wenigstens einer will nach drüben
■ Der Westberliner Schriftsteller Ronald M. Schernikau übersiedelt nach Ost-Berlin
Wohnen möchte er in „Mitte oder Prenzlauer Berg“, ein Zimmer mit Außenklo würde schon reichen. Doch die neue Heimat meint es besser mit ihm und hat dem Westberliner Schriftsteller Ronald M. Schernikau schon eine Zweizimmer-Neubauwohnung im Ostberliner Stadtteil Hellersdorf bereitgestellt. Morgen beginnt das neue Abenteuer für den 29jährigen, zum Einzug erhält Schernikau auch seinen DDR-Paß.
Auf die dringlichste Frage, warum der Schriftsteller von West nach Ost übersiedelt, hat er keine rechte Antwort. Politische Gründe? Private? Nein, eigentlich nicht. Schon als er sich bei den Ostberliner Behörden zur Übersiedlung anmeldete, konnte er diese Frage nicht beantworten, und der zuständige Beamte räumte dem Aspiranten noch mal eine Stunde Bedenkzeit ein. Aber der Entschluß stand fest.
Drei Jahre hatte Schernikau Zeit, das Leben im DDR-Alltag zu erproben. Seit 1986 studierte er am Institut für Literatur Johannes R. Becher in Leipzig, Ergebnis seiner hartnäckigen Bewerbung im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturabkommens. Ausgestattet mit dem höchsten Stipendiumssatz der Republik - 600 DDR-Mark pro Monat -, einer kleinen Neubauwohnung und einem Dauervisum für häufige Besuche in seinem Erstwohnsitz West-Berlin, absolvierte er das dreijährige Studium bis zum regulären Abschluß. Schernikaus Protokoll dieser Tage in L. ist gerade in Buchform in einem Hamburger Verlag erschienen. Gerne wäre er auch in Leipzig geblieben, doch die schlechte Luft dort gab den letzten Ausschlag zu seiner Entscheidung für Ost -Berlin.
So befremdlich scheint der Übertritt ins andere Deutschland wieder nicht, blickt man in die Biographie des gebürtigen Magdeburgers. Mit sechs Jahren kam er zusammen mit seiner Mutter im Kofferraum eines Fluchtautos in die BRD und lebte bis zum Abitur in Lehrte bei Hannover. Seine Erfahrungen mit dem schwulen Coming-out in der Provinz veröffentlichte er in seinem erfolgreichen Erstling kleinstadtnovelle. Danach studierte er in West-Berlin bis zum Wechsel nach Leipzig.
Seine Nähe zur DDR hat er in den Jahren im Westen nie aufgegeben, als Kind schon war in der SDAJ, später wurde er Mitglied der DKP. Die DDR-Station Jugendstudio DT 64 war sein bevorzugter Radiosender, und verwandtschaftliche Beziehungen gab es nur zum Osten: „Jedes Weihnachtsfest verbrachten wir bei den Tanten und Cousinen in Magdeburg.“ Schon immer literarisch interessiert, las er fast ausschließlich alles, was in der DDR veröffentlicht wurde: „Amerikanische Literatur hat mich nie begeistert, aber auch mit den russischen Klassikern kann ich nichts anfangen.“
Folgerichtig lebte er hier mit dem Bewußtsein, als Kommunist und Schriftsteller eigentlich drüben leben zu müssen. Aber ob er in der DDR je wird veröffentlichen können, scheint ihm selbst ungewiß, dafür sei er doch zu „schräg“, zu „westlich“. Doch eine Arbeit wird er finden in Ost-Berlin, mit dem Leipziger Abschluß in der Tasche wird der sozialistische Staat schon dafür sorgen, vielleicht in einem Verlag, am Theater oder in einer anderen Kultureinrichtung.
Ob er mit neuem Paß noch seine Freunde in West-Berlin besuchen kann wann er will, ist ungeklärt. Das wird er sehen, wenn er erst einmal in Hellersdorf eingezogen ist. Für die im Herbst schon verabredeten Lesungen in Westdeutschland hofft er auf jeden Fall auf Ausreiseerlaubnis.
Elmar Kraushaar
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