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Wenig sinnvoll, aber viel gekauftDer Hokuspokus ums Vitamin C

Vitamin C ist ein Heilmittel, das kaum einer braucht und doch jeder kauft. Um die Umsätze anzukurbeln, wurden extra Krankheits-Symptome dafür erfunden.

Sinnlose Tablette. Bild: AndreasF./photocase

Im Mai 1933 bietet der aus Polen stammende Chemiker Tadeus Reichstein der Basler F. Hoffmann-La Roche AG sein neu entdecktes Verfahren zur Herstellung von künstlichem Vitamin C an. Doch Roche zeigt kein Interesse: "Erwachsenen dürfte in der Norm genügend Vitamin C mit frischem Gemüse, Obst und dergleichen zukommen." Ein anderes medizinisches Einsatzgebiet als die dank Sauerkraut ausgerottete Seemannskrankheit Skorbut gebe es ohnehin nicht.

Beides gilt trotz langer Deutungskämpfe im Grundsatz noch heute. Dennoch werden immer noch jährlich rund 110.000 Tonnen Vitamin C produziert und Milliardenumsätze damit gemacht. Das Erstaunlichste aber: Zum erfolgreichsten Produzenten weltweit stieg innerhalb weniger Jahre nach Reichsteins Besuch eben jener Konzern auf, der doch eigentlich nicht wusste, wozu das Pulver taugen sollte - Roche.

Den Welterfolg hat ein erstaunlicher Kniff der Marketingabteilung möglich gemacht: Wo keine Krankheit ist, muss eine erfunden werden. Eigentlich hatte Roche Reichsteins Verfahren gekauft, um eine Chemikalie für Laborversuche zu vertreiben. Doch das Klima schien günstig, mit Vitaminen größere Geschäfte machen zu können, und 1934 kam mit Redoxon das erste künstliche Vitamin-C-Präparat in Tablettenform auf den Markt. Verschreibungspflichtig. Die enthaltene Vitaminmenge stieg von 0,05 auf ein Gramm im Jahr 2000.

Die Roche-Marketingleute zeigten sich in den 30er Jahren erfinderisch. Zwar entdeckten die Forscher keine eindeutige Indikation, doch hoffte man, das Pulver könne gegen Müdigkeit ebenso helfen wie gegen Karies, Tuberkulose, Erkältungen, zur Wund- und Knochenheilung sowie als Prophylaxe gegen Grippe. Dass die Forschungsabteilung laut internem Bericht "ironischerweise" keine Wirkung gegen Grippe nachweisen konnte, fiel nicht ins Gewicht. Den "Patienten" angedichtet hat Roche, dass schon eine Unterversorgung mit Vitamin C ausreicht, um als Krankheit durchzugehen. Noch bevor es Kriterien für die notwendige Vitaminmenge im Körper gab. Schließlich dürfe man nicht einfach vertreiben, was verlangt werde, sondern müsse "das dem Konsumenten mundgerecht machen, woran der Konzern ein Interesse hat".

Und mit etwas "Hokuspokus" sollte das Volk doch vor dem "Gespenst der C-Vitaminose" zum Zittern zu bringen sein. So ist das explizit nachzulesen in Roche-internen Berichten, die der Historiker Beat Bächi nun in Buchform zugänglich macht: "Vitamin C für alle!"

Aufgetrieben hat er Fakten und bislang verschlossene Interna, die zeigen, wie in geschickter Anlehnung an den Zeitgeist und die Ausnutzung von Ängsten mit manipulativen Strategien ein praktisch unnötiges Produkt am Ende lebenswichtig und unentbehrlich erscheinen kann.

Bis heute dauert der Streit um die Heilwirkung des Vitamin C an, besonders in der Krebsprophylaxe. Nach allgemeiner Forschungsmeinung ist diese nicht bewiesen, wenn auch immer wieder Studien angekündigt werden, die die Prophylaxewirkung beweisen sollen.

Prominentester Advokat für das Vitamin C war wohl der zweifache Nobelpreisgewinner Linus Pauling. Er war überzeugt, mit Hochdosierung nicht nur die Grippe besiegen, sondern auch dem Krebs vorbeugen zu können. Seine Bücher wie "Vitamin C und der Schnupfen" (1970/72) wurden Bestseller. Zeitweise soll er täglich 40 Gramm Vitamin C geschluckt haben, 800 Mal mehr, als Roche ursprünglich für angezeigt hielt. 1994 starb Pauling an Prostatakrebs. Ohne Vitamin C hätte er die Krankheit nie so lange hinhalten können, meinte er. Was leider weder zu beweisen zu widerlegen ist.

In der Pionierzeit musste sich Roche stark ins Zeug legen. Die Basler baten Ärzte um freundliche Gutachten, zumindest so freundlich, wie sie es "mit ihrem Gewissen vereinbaren" könnten. Auch brauche man Mediziner, so ein Rapport, um "dem äußerlich gesunden Patienten eine neue Krankheit anzudichten". Und mittels "Propaganda" müsse man "überhaupt erst ein Bedürfnis schaffen". Dazu entwickelte Roche einen kleinen Apparat zum Nachweis des Vitaminmangels. Die Geburtsstunde der Diagnostika-Sparte. Die niedergelassenen Ärzte jedoch lachten "zu 80 Prozent" die Basler Vertreter aus, als sie ihnen vom Vitamin-C-Mangel erzählten. Die Folgerung 1940: Viel Arbeit sei nötig, "um das Gros der Ärzte von Vitaminungläubigen zu Vitaminverschreibern zu machen".

Doch erste Erfolge stellten sich bald ein, auch weil Vitamin C als Breitband-Prophylaxe galt und leistungssteigernd wirken sollte. Roche brachte sein Mittel unter Sportler - noch 1954 ließen sich die deutschen Helden von Bern Vitamin C spritzen. Tief in die Gesellschaft zielten 1942 groß angelegte Schulversuche, in denen Redoxon-Tabletten als täglich Brot verteilt wurden wie Hostien und so in den Genuss quasi-religiöser Weihe kamen.

Ein weiterer medizin-politischer Coup gelang Roche drei Jahre später: An die Spitze der neu gegründeten Vitaminkommission des amtlichen Arzneibuchs kam Tadeus Reichstein - kaum frei von Eigeninteressen. Der Erfinder des künstlichen Vitamin C verdiente allein 1942 mit seinem Patent 452.577 Franken.

"Das katalytische Ereignis für den Aufstieg von Vitamin C zur Volksdroge" ist laut Beat Bächi aber der 2. Weltkrieg. Das Militär war verrückt nach dem Mittel, zur Leistungssteigerung und Optimierung der Soldaten und - hier treffen Roche-Interessen auf NS-Ideologie - der "Gesundheit des Volkskörpers" sowie der Pflicht des Einzelnen zur Gesundheit. Ein Gedanke, der nach dem Krieg weiterwirken sollte.

Roche-Fabriken im deutschen Grenzach entstanden, auch um den dortigen Markt effizient beliefern zu können. Sie galten ab 1942 als kriegswichtig und waren besonders geschützt. Verkaufte Roche 1940 etwa 20 Tonnen Vitamin C in Deutschland, waren es 1944 mehr als zehnmal so viel, die Umsätze zwischen 1939 und 1943 stiegen um knapp das Dreifache. Ein ausgezeichnetes Geschäft mit nachhaltiger Wirkung.

Denn die bahnbrechende Marketingidee, aus einem Heilmittel ohne echte Indikation und nachweisbaren Effekt ein Funktionsmittel mit versprochener Wirkung zu machen, trifft in den leistungsorientierten Nachkriegsgesellschaften auf fruchtbaren Boden. Das Versprechen, Leistung zu steigern und die Funktion des Organismus zu erhalten, bedient die Vorstellungen einer modernen Leistungsgesellschaft perfekt, in der das Individuum zur Gesundheit verpflichtet und Krankheit oder Schwäche ein diskriminierender Makel sind. In Roche haben viele heutige Joghurt- und Functional-Food-Produzenten einen wunderbaren Lehrmeister gefunden.

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9 Kommentare

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  • B
    Benson

    Also gerade von der Taz hätte ich so einen Bericht nicht erwartet...Ich bin nicht nur enttäuscht, sondern STINKESAUER!!!

     

    Keine Recherche, die ich als solche bezeichnen würde.

     

    Schon allein die Teilüberschrift "wenig sinnvoll, aber viel gekauft" ist ja wohl der größte Witz. Es ist nicht nur falsch, sondern grob fahrlässig solch eine Meinung zu verbreiten. Aber in dem Fall reiht sich der Autor ein, in eine Reihe von Kampfschriften der Pharmaindustrie GEGEN das Vitamin C.

     

    Herr René Zipperlen hat wohl weder die Bücher von Linus Pauling, noch andere Fachbücher zu diesem Thema gelesen, ansonsten kann ich mir nicht vorstellen, wie man solch einen Artikel schreiben kann. Sie zitieren Studien, aber bleiben den Nachweis schuldig, wie die Studien abgelaufen sind, wer sie durchgeführt, etc. Und das ist nur EINS von vielen Mankos die mir aufgefallen sind.

     

    Vitamin C spielt bei vielen chemischen Reaktionen im ganzen Körper eine sehr gewichtige Rolle. Es wurde auch von einigen Wissenschaftlern auf Molekularebene erklärt, wie Vitamin C funktioniert und wo es überall im Stoffwechsel eine Funktion hat. Wer das gelesen und verstanden hat, wird sich nicht mehr zu der Aussage hinreisen lassen, künstliches Vitamin C sei "nutzlos" und nur "Geldmacherrei".

     

    Ich frage mich wirklich, ob nicht dieser Artikel im Auftrag der Pharmaindustrie produziert wurde oder ob der Autor einfach nur stereotyp eine Meinung wiedergibt, ohne eine anständige Recherche zu leisten.

     

    Natürlich gibt es Firmen die auch mit Vitamin C "Abzocke" betreiben, aber solche Phänomene gibt es wohl in allen Bereichen.

     

    Aber eine Dose mit 250g Vitamin C kostet gerade mal 8,- Euro. Uhhh...Wahnsinns Abzocke.

     

    Es gibt Krebsmedikamente die kosten TAUSENDE von Euros AM TAG!

     

    So Herr Zipperlein...jetzt erklären Sie mir aus wirtschaftlicher Sicht, wieso die Pharmaindustrie ein Interesse daran haben sollte, Vitamin C als Allheilmittel zu probagieren? Im Vergleich mit anderen Medikamenten, ist der Umsatz an Vitamin C "peannuts". (Waren sie mal in letzter Zeit in einer Apotheke und haben nach Vitamin C gefragt? Anscheinen nicht. Denn dann hätten sie gemerkt das die meisten Apotheker etwas seltsam reagieren, wenn man nach Vitamin C frägt und man sich komische Fragen gefallen lassen muss...)

     

    Merken Sie nicht, das durch solche Bücher, aus denen Sie zitieren und solchen Artikeln, wie sie einen geschrieben haben, sie genau denen Menschen zuarbeiten, die Sie mit diesem Artikel bloß stellen wollten?

     

    Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber das würde den Rahmen eines Kommentars sprengen....

  • UP
    Udo Pohlmann

    Schade das Ihr die üblichen Argumente verwendet.

     

    Aber es ist auch nicht anderes zu erwarten. Immer progressiv, immer modern. Deswegen habe ich svhon lange mein Abo bei Euch gekündigt.

  • P
    Panda

    Herr Dr. Bächi hat wohl gut recherchiert und fleissig gearbeitet. Leider ist Herr Dr. Bächi weder Chemiker noch Biochemiker oder Biologe und kann deshalb die vielen Publikationen über Vitamin C u.a. Stoffe nicht voll in seine historisch-soziologische Perspektive einordnen.

     

    Nur grob soviel: Biologische Systeme sind ohne die chemische Wirkung von Reduktionsmitteln und dem ziemlich komplexen Elektronentransport in den Zellen nicht funktionstüchtig. Die Reduktionsmittel Vitamin C (wasserlöslich) und Vitamin E (fettlöslich) sind für die menschliche Gesundheit unabdingbar und ziemlich zentral. Mit der heutigen, menschlichen Ernährungsweise sind leider nicht automatisch alle nötigen Stoffe in ausreichender Menge verfügbar und es ist klart, dass wir uns ziemlich weit vom Optimum einer gesunden Ernährung entfernt haben.

     

    Die Zuckerchemie war die Grundlage der künstlichen Synthese von Vitamin C.

    An Glukose (Traubenzucker), dem wichtigsten Energieträger für den Menschen und Ausgangspunkt einer Synthese von Vitamin C, kommt niemand vorbei der sich ernsthaft für die menschliche Gesundheit interessiert.

     

    Grosse Chemiker wie Tadeus Reichstein, Paul Karrer, Linus Pauling, Albert Szent-Györgyi haben nicht an einem Mythos gearbeitet. Es sollte vielleicht auch bedacht werden, dass zwischen der Chemie als Wissenschaft und der Chemie als Geschäftsfeld klar unterschieden werden sollte.

     

    Es wäre wünschenswert, wenn die Sozialwissenschafter sich den Objekten annehmen, von denen sie wirklich etwas verstehen. Es braucht heute mehr denn je eine kritische Einstellung zu unserem Konsumverhalten und den Schalmeien der Geschäftemacher. Es geht mir und wohl auch anderen Fachleuten aber zu weit die Arbeit von ernsthaften Wissenschaftlern in einem so schiefen Licht erscheinen zu lassen. Das internationale Jahr der Chemie verpflichtet auch hier zur Aufklärung.

  • GV
    Gernot von Schultzendorff

    Leider keine Recherche, stattdessen der eingeübte Reflex. Es ist genau anders herum als dargestellt, das Vitamin C war und ist extrem billig, die amerikanische Pharmaindustrie hat Linus Pauling, der übrigens 93 Jahre alt geworden ist, bis aufs Blut bekämpft, weil sie natürlich weiter ihre um ein vielfaches teureren Erkältungsmittel verkaufen wollte.

     

    Tatsächlich geht es Pauling ganz zentral um die Erkältungskrankheiten, seine Argumentation bei anderen Krankheiten (und noch mehr bei anderen Vitaminen) ist weit weniger überzeugend.

     

    Es gibt ein bemerkenswertes Argument für die Hochdosierung von Vitamin C: Der Mensch ist (gemeinsam mit dem Goldhamster) das einzige Säugetier, das Vitamin C nicht selber synthetisieren kann. Und die anderen Säugetiere synthetisieren es selber, und zwar eben in hoher Dosierung.

     

    Ich habe die sehr erstaunliche Wirkung von hochdosiertem Vitamin C (3 bis 4 Gramm/Tag) bei chronischen Erkältungskrankheiten vor einigen Jahren bei meiner Tochter beobachten können. Die Wirkung setzt fast sofort ein. Ich denke es ist gut zu wissen, dass es für diese Fälle ein Mittel, eben Vitamin C, gibt, das extrem preiswert und viel wirksamer als alle anderen Mittel ist. Falls man es bei anderen Erkrankungen probieren möchte: es ist, das bestätigen einem jeder Arzt und jeder Apotheker, bis 10 Gramm/Tag völlig ungefährlich.

  • D
    Denkanstoß

    Das wird doch in diesem Bericht so überhaupt nicht gesagt. Es wird einfach nur mal wieder deutlich, wie die Pharmaindustrie die gesundheitlichen Bedarfe des Menschen relativiert, um daran schließlich Unmengen an Geld zu verdienen. Die Schweinegrippe oder die stetig herabgesetzten Grenzwerte des Cholesterin- Normwertes sind dafür weitere Beispiele. Die Menschen merken einfach nicht mehr, dass sie in einer konsumorientierten Gesellschaft nur noch Marionetten sind und durch die zur Verblödung beitragenden Massenmedien auch alles in "schönen kleinen Portionen" serviert bekommen.

  • A
    anke

    Man muss nicht in einer "Leistungsgesellschaft" leben, um seine Gesundheit zu lieben. Auch ohne erklärte Fitness-Pflicht haben Menschen eine gewisse Abneigung Krankheiten gegenüber. Krankheiten sind nämlich meistens irgendwie unangenehm. Genau das macht sie unterscheidbar vom "Normalzustand". Die Einschränkung der eigenen Leistungsfähigkeit im Krankheitsfall stört den ideologisch unbeschwerten Menschen nur in soweit, als sie praktisch-negative Folgen hat – für ihn selbst oder für die, die er mag. Dass eine schwere Erkältung insbesondere in Zeiten der Lohnfortzahlung auch ein "gesellschaftliches", sprich: Arbeitgeberproblem ist, stört wohl die wenigsten von uns. Führungskräftige Arbeitgeber und deren (den meisten Menschen weitgehend unbekannte) Freunde und Förderer können das natürlich nicht so ohne weiteres hinnehmen. Auch die Firma Roche hat ihre Lehrmeister. Das sind jene Leute, die aus natürlichen Phänomene wie der menschlichen Krankheits-Aversion nicht nur langfristig hohe Einzelhandelsumsätze kreieren, sondern gleich ganze Gesellschaftsmodelle wie das der "Leistungsgesellschaft". Ihr Motto: Ersetze die zwangsweise Disziplinierung durch eine freiwillige. Ihr Ziel? Das eigene, möglichst risiko- und gegenleistungsfrei gewonnenen Wohlbefinden. Geld für Vitamine? Kann sparen, wer die Begriffe Leistung und Gesundheit definieren darf.

  • M
    micha

    nichts neues, stand schon vor nem jahr in der zeit.

  • V
    vic

    Was wohl Ilse Aigner, ihres Zeichens Bundesministerin für Landwirtschaft, Ernährung und Verbraucherschutz, zu dieser Verbrauchertäuschung sagt?

  • G
    gbddfgdg

    Das kann ja wohl nicht wahr sein, dass der medizinische Stand von 1933 herangezogen und als "im Grundsatz noch gültig" deklariert wird. Vitamin C ist nur gut, um vor Skorbut zu schützen - darauf muss man erst mal kommen!