Wenig hilfreich

betr.: „Deutschland tickt noch anders“ von Eberhard Seidel, taz vom 9. 7. 01

[...] Da hat einer, der für eine kritische, wenn nicht linke Zeitung schreibt, sich die Wirklichkeit schöner und einfacher geschrieben, als sie sein dürfte. Abgesehen davon, dass es nicht immer zu breiten Bündnissen kommt, um Neonazi-Aufmärsche zu ver- und behindern (es wäre wirklich schön und absolut wünschenswert), finde ich es empörend, die allgemeine Meinungsmache dadurch zu bedienen, die „militanten Rechten“ (nur) im so genannten Osten zu suchen. Als ob es im so genannten Westen keine Übergriffe gäbe, keine gewaltbereiten „rechten“ Schläger. Als ob es auf eine räumliche Trennung immer ankäme. [...]

Natürlich gibt es im so genannten Osten noch relativ wenig Migranten, weshalb ich es nicht nur traurig, sondern auch lächerlich finde, dass man sich dort von Ausländern überhaupt bedroht fühlen kann. Doch was ist die Ursache?

Eine Antwort: Die soziokönomische Lage im so genannten Osten gestaltet sich für etliche Menschen bereits sehr schwierig. Ihre Existenzsorgen kann man sich vielleicht im so genannten Westen nicht vorstellen. Was die so genannte Wende an Lücken gerissen hat, ist nicht so leicht aufzuarbeiten. Ich denke vor allem an die Identität, die nicht nur den erwachsenen Generationen entrissen wurde, sondern auch den jungen: falls man bereits alt genug war (etwa 15, 16 Jahre), erlebte man unter Umständen den Verlust hautnah selbst. Und war man jünger, so hatten die Eltern häufig nicht die Kraft/die Aufmerksamkeit, ihren Kindern eine eigene Identität anzubieten bzw. vorzuleben. Hinzu kam die Propaganda westlicher Politiker und Medien, die der DDR jedewede Existenzberechtigung und Positiva absprachen.

Aus der westlichen Gesellschaft kam wenig Unterstützung beim Aufbau eines sozialen Klimas. Es kam der endgültige wirtschaftliche Niedergang, der Abbau von Freizeitmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. [...] Die Gesellschaft hat es versäumt, an dieser Stelle Alternativen zu bieten, trägt im Gegenteil durch ihre vor allem anfangs massive verbale Ausgrenzungspolitik gegenüber so genannten Ostdeutschen eine Mitschuld an bestimmten Entwicklungstendenzen.

Ich will nicht beschönigen, nicht Schuld abwälzen. Aber ein Kommentar wie der hier thematisierte ist insgesamt wenig hilfreich. [...] ANJA TEWS, Wuppertal

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