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„Wendeknick“ nach Babyboom

Geburtenrückgang aus Zukunftsangst/ Männer haben Angst vor der Sterilisation  ■ Von Thomas Schmol

„Heute ein Kind in die Welt zu setzen, zeugt von grenzenlosem Optimismus. Ich persönlich sehe allerdings dafür keine Grundlage, diesen Optimismus in Ostdeutschland zu haben.“ Diese Meinung teilt Christina Schenk, Bundestagsabgeordnete des Bündnis 90/Grüne, mit vielen Frauen der ehemaligen DDR. In den neuen Ländern beklagen Frauenärzte einen „dramatischen“ Geburtenrückgang. Durchschnittlich etwa ein Drittel weniger Kinder als im Jahr zuvor wurden seit dem Spätsommer 1990 geboren. Das Wort vom „Wendeknick“ macht in Fachkreisen die Runde.

Als einzig positives Zeichen sehen Ärzte den „eher rückläufigen“ Abtreibungstrend, wie der Chefarzt der Schweriner Frauenklinik, Peter Wille, meint. Dagegen bevorzugten immer mehr Frauen die Sterilisation. „Vor der Wende ließen sich bei uns fünf bis sechs Frauen sterilisieren, jetzt sind es fast 25 in der Woche“, sagt Günter Morack, leitender Arzt der Frauenklinik Berlin- Buch. Dabei würden die Frauen erst nach strengen Kriterien zur Sterilisation zugelassen. Die Familienplanung müsse abgeschlossen, und die Patientinnen müßten möglichst weit über 30 Jahre sein. „Wir sehen den Eingriff nicht als reine Dienstleistung“, betont der Chefarzt. Er empfehle den Ratsuchenden, eher ihre Freunde oder Ehemänner zu dem Entschluß zu bewegen. Doch diese lehnten es oftmals ab, obwohl die Sterilisation bei Männern ein medizinisch weniger weitreichender Eingriff ist. Aber nur drei Männer hätten sich dieses Jahr sterilisieren lassen.

Über die Ursachen des Geburtenrückgangs sind sich Ärzte und Frauenrechtlerinnen einig: soziale Unsicherheit in den neuen Bundesländern. Die SED-Führung hatte den Babyboom in der DDR geradezu heraufbeschworen. Der vom Staat gestellte Ehekredit über maximal 7.000 Mark konnte durch Kinderkriegen getilgt werden — „Abkindern“ hieß das im Volksmund. „Ich habe fünf Kinder und liebe sie alle. Aber wenn ich gewußt hätte, wie das hier mal alles wird, hätte ich mir das sicherlich überlegt“, sagt eine arbeitslose Ostberlinerin heute. ap

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