: Wendehälse im IG-Chemie-Vorstand
Zwei frühere FDGB- und SED-Mitglieder wurden in den Vorstand der IG Chemie gewählt/ Stundenlange Debatte um SED-Vergangenheit/ Ostkandidaten schnitten schlechter ab ■ Aus Bonn Martin Kempe
„Ein vorsichtiger Dämpfer“ — so charakterisierten Delegierte die Ergebnisse der ostdeutschen Kandidaten bei der Wahl zum geschäftsführenden Hauptvorstand der Industriegewerkschaft Chemie in Bonn. Insbesondere bei dem langjährigen FDGB-Spitzenfunktionär Hartmut Löschner mochten viele Delegierte nicht mitziehen. Löschner (jetzt SPD) war vor der Wende stellvertretender Vorsitzender der IG Chemie, Glas, Keramik in der ehemaligen DDR. Er wurde gestern mit knapp 60 Prozent der abgegebenen Stimmen zum stellvertretenden Vorsitzenden der IG Chemie gewählt — ein Ergebnis, das deutlich hinter den 80- bis 98-Prozent-Ergebnissen für die aus der Westorganisation kommenden bisherigen Vorstandmitglieder zurückblieb. Der zweite ostdeutsche Kandidat, Heinz Junge (SPD), ebenfalls ehemaliger Funktionär der SED und des FDGB, ging mit 71 Prozent durchs Ziel.
Herman Rappe, der alles dominierende 61jährige Vorsitzende der IG Chemie, erzielte für seine letzte Wahlperiode das Traumergebnis von 88,7 Prozent. Dieses Ergebnis spiegelt die unbstrittene Autorität des Vorsitzenden wider, der seit 1982 die drittgrößte DGB-Gewerkschaft führt und in den letzten Jahrenb zum prominentesten gewerkschaftlichen Verfechter einer partnerschaftlichen Kooperation mit den Unternehmern wurde. Opposition gegen diesen Kurs, ob nun aus der traditionssozialistischen oder aus der grünen Ecke, hat in der IG Chemie schon seit Jahren keine Chance mehr.
Immerhin haben die beiden gewendeten Ostkandidaten am Dienstag eine mehrstündige Diskussion über die Umgangsweise der Gewerkschaft mit der DDR-Vergangenheit ausgelöst. Ihnen wurde zugute gehalten, daß die Ost-IG-Chemie im Gegensatz zu anderen DDR-Einzelgewerkschaften schon vor der Wende begonnen habe, sich gegen die Unterordnung unter den parteihörigen FDGB zu wehren. Außerdem könne man angesichts der millionenfachen Verstrickung der DDR-Menschen in das SED-Herrschaftssystem, so Rappe, „nicht ein ganzes Volk anklagen“. Andere Delegierte jedoch beharrten auf der Frage, ob es nicht andere, weniger vorbelastete Personen für die Spitzenämter in der IG Chemie hätte geben können. Eine Antwort bekamen sie nicht. Auf einer abschließenden Pressekonferenz bezeichnete Rappe die Debatte und die Wahl der ostdeutschen Kandidaten als „Musterbeispiel“ für einen gelungenen Integrationsprozeß. In seiner heutigen Grundsatzrede kündigt Rappe eine „osteuropäische Initiative“ an.
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