: Wellnesscenter Schule
betr.: „Abschied von der Lern-Industrie“, taz vom 4. 12. 03
Wenn ich in den Vorstellungen über den Soll-Zustand der Schule von morgen lese, „junge Lerner schweifen durch blühende Lernlandschaften“, sind „wissenshungrig und kooperativ“, „gestalten den Unterricht aktiv mit“, „suchen sich selbst die Themen“ etc., dann frage ich mich, was für ein Menschenbild hinter einer solchen Vorstellung stecken mag. Glaubt der Autor im Ernst, dass Kinder und Jugendliche allein durch eine entsprechende Pädagogik in traumhaften Rahmenbedingungen zu allseits wissbegierigen Persönlichkeiten werden? Dass sie beim Eintritt in das Wellnesscenter Schule alle ihre Probleme, Ängste, Aggressionen, Widerständigkeiten, die im Menschsein und in ihren realen Lebensbedingungen außerhalb von Schule wurzeln, hinter sich lassen, um konfliktfrei mit ihren Lernmoderatoren sich ohne Leistungsdruck „topqualifizieren“ zu können für eine Ökonomie, die ihrerseits absolute Leistungsbereitschaft fordert? Das erinnert an naiven Rousseauismus und trägt totalitäre Züge. Dazu passt auch der nach Orwell klingende Begriff von der „Evaluationsagentur“. Bei allem, was an gegenwärtiger Schule zum Teil in katastrophalem Ausmaß schief läuft, auf solch platte, unreflektierte, letztendlich gefährliche Zielvorstellungen können wir getrost verzichten. GERHARD GRÄBER, Karlsrsuhe
betr.: „Deutsche Schule: Sechs, setzen“, „Zwei Jahre Pisa-Studie: Was haben Sie daraus gelernt, Frau Ahnen?“, taz vom 4. 12. 03
Wow! Die beachtliche Reaktion der Kultusministerkonferenz (KMK) zwei Jahre nach Pisa: „… eine Kultur der individuellen Förderung von Schülern zu etablieren“! Ist ja toll – bei einer durchschnittlichen Klassengröße von 30 Kindern und mehr. […] Die Schlüsse, die Frau Ahnen aus der Pisa-Studie zieht, gerade in Bezug auf heterogene Lerngruppen, sind ja durchaus nachvollziehbar, nur: Warum schaffen die Kultusminister dann nicht als ersten Schritt das Sitzenbleiben ab?
Woher kommt die Kritik, dass die KMK (angeblich) viel zu schnell und überhastet reagiert? Womöglich von einigen anderen Kultusministern höchstselbst? Wir haben das Gefühl, sie reagieren gar nicht oder wie in Baden-Württemberg in eine vollkommen falsche Richtung: Kopfnoten für Betragen und Mitarbeit, Gymnasium nur noch 8 Jahre, Lehrern werden zusätzliche Stunden aufgebrummt mit dem Effekt, dass ab sofort alle zusätzlichen freiwilligen AGs, Projekte, Klassen- und Studienfahrten nicht mehr stattfinden. Eine gute und wichtige Spracherziehung für Vorschulkinder wird kurzerhand wieder abgeschafft, weil es gerade keine Landeszuschüsse mehr dafür gibt … Es geht eher rückwärts, Frontalunterricht pur, Schüler, friss oder bleib sitzen. Quälende Paukerei anstatt Spaß am Lernen.
Wann gehen Lehrer, Schüler und Eltern in diesem Land für eine neue Schule frei von Ängsten endlich mal massenhaft auf die Straße? […] PETER KUHM, Karlsruhe
Leistungshomogenisierung an den Schulen ist weiterhin das erklärte Ziel der deutschen Schulstruktur. Auch nach Pisa nimmt die Selektivität weiter zu: Bei der Versetzungspraxis zum Beispiel sind allgemein wenige Veränderungen auszumachen. Im Gegenteil: Länder wie Mecklenburg-Vorpommern und NRW etwa haben sich nicht gescheut, ihre Versetzungsordnungen zu verschärfen. In den alten Bundesländern gab es sogar eine Herabsetzung des Selektionsalters, mit dem Effekt einer strukturellen Zunahme der Selektion.
Zwei Jahre nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der Pisa-Studie hat es die KMK gerade mal geschafft, nationale Bildungsstandards einzuführen. Gleichzeitig wird die faktisch seit Jahren praktizierte Selektion des deutschen Bildungssystems nun auch noch auf den Hochschulbereich ausgedehnt: Zweit- und Langzeitstudiengebühren sollen flächendeckend eingeführt werden. Wenn das Hochschulrahmengesetz fällt, sind für alle Gebühren schon im Erststudium möglich. Gerade die sozio-ökonomische Dimension der Selektion in Deutschland ist von einschlägigen internationalen Studien immer wieder deutlich bemängelt und angemahnt worden. Stellt sich die Frage: Sollten etwa auch unsere Kultus- und Bildungsminister funktionale Analphabeten sein? STEFANIE SCHRÖDER
& ANDREAS KEMPER, ReferentInnen für finanziell & kulturell
benachteiligte Studierende, AStA Uni Münster