Weiter so, AbonnentInnen!: Das Kettenbriefwunder
■ Mit phänomenalem Erfolg endete am Wochenende die Kettenbriefkampagne zur Rettung der taz: Am 12.12. sollen 10.000 Abos mehr begossen werden
Kettenbriefe sind Teufelswerk. Sie arbeiten mit der Angst der Leute vor schlimmem Unglück, drohen gar mit Ableben, falls der Angeschriebene die Forderungen nicht erfüllt, locken andererseits mit Geld oder Glück. Kettenbriefe sind diffus erpresserisch. Und sie werden von den Bedrohten finanziert. „Das ist es“, frohlockte Sybille Pook aus der taz-Werbeabteilung, die sich seit Wochen den Kopf marterte, wie die neue ultimative, superbillige und zwingend wirkungsvolle taz-Rettungskampagne aussehen sollte. „Genial, genau das, was wir brauchen.“
Ab dem 5. September schwappte der Kettenbrief in einer Auflage von 1,3 Millionen Exemplaren übers Land. Unter dem Slogan: „Keine taz mehr? Ohne mich!“ wurden alle Leser dringlichst aufgefordert, all ihre Freunde und Feinde per Zusenden des kopierten Briefes zum taz-Abo zu nötigen. Die Drohung: 5.000 Abos bis zum Jahresende, oder wir überlassen Euch der bürgerlichen Presse. Eine Drohung, offenbar heimtückisch und gemein genug, um unter den Angesprochenen hektisches Kopieren und Weiterversenden auszulösen. Denn die Resonanz war überwältigend: Bereits nach vier Wochen war die 5.000-Grenze fast erreicht.
Die Ideenproduzenten der etablierten Werbeagenturen rauften sich die Haare ob des phänomenalen Erfolgs der tazschen Billiglösung, während die Werber der taz bereits über einer Neuauflage brüteten. Und wieder war die Lösung bestechend schlicht: Die Kampagne wurde einfach „auf vielfachen Wunsch verlängert“.
Seitdem wächst unsere AbonnentInnenschar zwar nicht mehr um 1.000, aber immerhin noch um 300 bis 400 wöchentlich. Ein Zeichen, daß längst nicht mehr Solidarität, sondern echtes Lesebedürfnis im neuen Deutschland die Schere um den Aboschnipsel kreisen läßt.
In jedem Fall, der Genossenschaftsvorstand, in den hochdefizitären Sommermonaten merklich dünnlippig geworden, lächelt wieder: Wenn die taz-GenossenschaftlerInnen am 12. Dezember 1992 ab 9 Uhr zur außerordentlichen Freuden-Rettungs-Versammlung in der Berliner UFA- Fabrik zusammentreten, werden die Vorständler den Genossen guten Gewissens mitteilen können, daß die taz nicht eingestellt wird – auch wenn so hinterhältige taz-Gegner wie die Deutsche Bundespost uns das am Abend sich anschließende Fest vergällen wollen (siehe Seite2).
Am Nachmittag haben die GenossInnen (wie auch alle anderen taz-Freunde, Kettenbriefverschicker und Gelegenheitsleser männlichen und weiblichen Geschlechts) zunächst noch die Möglichkeit dazuzulernen: Franz Alt stellt seine Zukunftsvisionen über den Ausstieg aus der Atomkraft vor. Anschließend stehen im taz-Haus in der Kochstraße – einmalige Chance! – RedakteurInnen (ob Chef oder nicht Chef) sowie die AbteilungsleiterInnen des ganzen Verlages, von A wie Abo bis V wie Vertrieb, zum Ansprechen, Beschimpfen, Loben oder einfach nur zum Gängeln zur Verfügung.
Pünktlich um 20 Uhr (Einlaß 19 Uhr) bittet die taz dann zum tobenden Tanz: Beim Auferstehungsfest im Tränenpalast an der Friedrichstraße soll zur Abwechslung mal der Sekt fließen. Für den originellen Verlauf des Abends sorgen die Chansonette Georgette Dee und ihr Pianist Terry Truck. Unter deren Marlene- Dietrich-artiger Fuchtel werden die gnadenlosen Kabarettisten Jockel Tschiersch und Matthias Deutschmann und die Artistinnen von „Les Lionnes“ sich die Zungen und Glieder verrenken. Einen Anschlag auf die Gehörgänge plant die Band „The Blech“, deren Geräusche von den Kritikern einhellig als „skrupellos“ bezeichnet werden. Um 21 Uhr ereilt die glücklichen Gewinner der Weltreise zu den taz-Korrespondenten ihr Schicksal, bevor fünf FCKW-freie Kühlschränke ein neues Zuhause bekommen. Die brasilianische Combo „Roda Viva“ bringt mit Salsa, Funk und Reggae die Hüften zum Kreiseln, bis irgendwann spätnachts DJ Bym übernimmt. Und weil wir ganz modern sind und immer auf dem neusten Stand der Fetenkultur, werden unsere Künstler wie Sahnetörtchen verziert und garniert – mit multimediamäßigen Videoinstallationen.
Kommen darf, wer willig zahlt: 18 Mark kostet die Karte im Vorverkauf (Abendkasse 20 Mark). Zu erstehen am taz-Counter in der Kochstraße 18 oder im Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße (Tel.: 3211022). miß
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