piwik no script img

KommentarWeihnachtsmann mit Herz

■ Eberhard Diepgen läßt die Seele baumeln

Armer Eberhard Diepgen! Wenn Roman Herzog der Nation ein „gesegnetes Fest“ wünscht, dann sitzen annähernd 80 Millionen Menschen gebannt vor dem Fernsehschirm. Beharrlich ignorieren die Berliner dagegen, daß ihnen auch der Regierende Bürgermeister rät: „Genießen Sie die freien Tage und nutzen Sie die Zeit, um wieder einmal zu sich selbst zu finden.“

Dabei hat der Mann Gewichtiges zu sagen. Die „unterschiedlichen Lebensläufe“ der Ostberliner will er nur dann „als gleichberechtigt anerkennen“, wenn sie im Gegenzug den „Mut zur historischen Wahrheit“ aufbringen. Mit der Geschichte kennt sich der Hobbyhistoriker schließlich aus: „Damals, vor 2000 Jahren, herrschte in der ganzen Welt Frieden.“ Das ist wahrhaft neu. Weniger neu, dafür auch weniger angreifbar ist Diepgens Erkenntnis, wir hätten den Frieden „heute nötiger denn je“.

Diepgen zöge der „kalten Finanzpolitik“ der zuständigen Senatorin eine „Politik mit Herz“ vor, ohne die „anstrengende, aber notwendige Modernisierungs- und Reformpolitik“ aufgeben zu wollen: Der Mann beherrscht die höhere politische Akrobatik. Und wie bescheiden er ist! Erst eine Woche vor Jahresende erfahren wir, daß seine „ganz persönliche Zuwendung“ im zu Ende gehenden Jahr „gerade den Menschen“ galt, die „nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen“. Ganz persönlich, wohlgemerkt – denn politisch rät er den Berlinern, sie sollten ihre Erwartungen nicht „allein auf den Staat richten“.

Auch gemeinsame Werte, glaubt Diepgen, könne „der Staat nicht schaffen“. Trotzdem müsse er sie pflegen, und zwar in Form eines „Wahlpflichtbereiches Religion/Ethik“ an Berlins Schulen, „wie er in fast allen anderen Bundesländern üblich ist“. Denn: „Die Zeit der Berliner Extrawürste ist vorbei.“ Schließlich würden „viele von uns“ heute abend „in den Kirchen der Stadt die Geburt Jesu Christi feiern und für den Frieden beten“.

Keine Sorge, bei Diepgens zu Hause geht es an den Feiertagen nicht nur ums Beten. „Nach der Hast und Unrast des Arbeitsjahres“ will der Regierende „die Seele ein wenig baumeln lassen“ – nicht nur „zum Erholen und Entspannen“, sondern auch „zum Nachdenken und Besinnen“.

Viel Erfolg! Ralph Bollmann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen