■ In Skandinavien längst ein alter Hut: die Winterdepression
: Weihnachten unterm Lux-Strahler

Stockholm (taz) – Skandinavien – Mitternachtssonne und Land der taghellen Nächte. Im Sommer. Und im Winter? Da ist es dunkel. Im nördlichen Skandinavien war schon Ende November die Sonne endgültig verschwunden und wird dort vor Ende Januar auch nicht wieder auftauchen. Weiter südlich, in Oslo, Stockholm, Helsinki, wird es erst nach neun Uhr hell, ab zwei Uhr am Nachmittag schon wieder duster. Wer denkt, daran werden sich die Leute hier oben schon gewöhnt haben, der irrt. Unüberschaubar die Schar der SchwedInnen, FinnInnen, NorwegerInnen, die regelmäßig jedes Jahr von der Winterdepression befallen werden. In mehr oder weniger schlimmer Ausprägung: von höherem Alkohol- und Süßigkeitenkonsum, schlechter Dauerlaune, notorischem Unausgeschlafensein bis hin zu Fällen, die intensiver medizinischer Behandlung bedürfen. Zwar soll es da und dort Glückliche geben, die in den hellen Sommernächten auf Schlaf fast verzichten können und dies im Winter durch nur zu Essenpausen unterbrochenen Dauerschlaf wieder ausgleichen, aber sie sind die Ausnahme. Große Teile der Bevölkerung werden regelrecht winterkrank.

Im nordnorwegischen Tromsö, wo Ende letzten Monats die Sonne verschwand und sich erst am 20. Januar wieder kurz blicken läßt, haben systematische Untersuchungen gezeigt, daß gerade das Schlafen in der dunklen Jahreszeit problematisch zu sein scheint. Mit zwei Problemen haben die TromsöerInnen laut Trond Bratlid vom Asgard-Krankenhaus allwinterlich zu kämpfen: „Entweder sie können abends nicht einschlafen, oder sie schlafen viel zuviel und fühlen sich trotzdem wie erschlagen.“ Vor allem letztere Gruppe ist stark winterdepressionsgefährdet. Bratlid: „Die Vielschläfer werden depressiv, haben unnormal großen Appetit, sind nie ausgeruht, obwohl sie vier, fünf Stunden zu lange schlafen. Jeder zweite in Tromsö klagt über solch ein SAD-Syndrom“ (Seasonal Affective Disorder).

Die recht logisch anmutende Erkenntnis, daß ein Zuviel an Dunkelheit am sinnvollsten durch ein Mehr an Helligkeit bekämpft werden sollte, hat mittlerweile auch immer mehr MedizinerInnen überzeugt. In jedem größeren Krankenhaus in Skandinavien gibt es Abteilungen für „Lichtbehandlung“, denn einfach zu Hause ein paar zusätzliche 100-Watt-Glühbirnen in den Kronleuchter zu schrauben, hat sich als ineffektiv herausgestellt. Nein, so der Lichtforscher Rikard Küller von der Technischen Hochschule in Lund, davor könne er nur warnen. Wenn Neonröhren und Glühbirnen nicht nach den letzten Erkenntnissen der Lichtforschung plaziert würden, gebe es zusätzlich zur nicht behobenen Winterdepression auch noch Streß, Schwächung der Immunabwehr und damit unüberschaubare Folgeleiden.

Unter Depressionen leidende NordländerInnen müssen sich also in der Ambulanz eine zusätzliche Portion Licht abholen. Oder medizinisch etwas genauer: Der die Winterdepression auslösende Überschuß am „Schlafhormon“ Melatonin wird reduziert durch regelmäßige Zusatzbeleuchtung.

Solarium hilft nicht. Melatonin wird durch über das Auge einfallendes Licht vertrieben, die Haut spielt nur eine untergeordnete Rolle als Lichtfenster. In Tromsö hat man große Lichtstrahler entwickelt, die über mehrere spezialkonstruierte Leuchtstoffröhren ein Licht von 2.500 Lux aussenden – ungefähr 100 Lux sind es bei einem normalen an der Decke befestigten Neonstrahler. Täglich zwei bis drei Stunden beträgt die Behandlungsdauer. Nach ein paar Wochen zeigen die meisten Patienten eine deutliche Besserung. Abbrechen dürfen sie die Lichtbehandlung danach aber nicht – die Winterdepression schlägt sofort wieder zu. Die ersten, wenn auch nicht ganz billigen Heimstrahler werden mittlerweile angeboten, und wenn die Entwicklung so weitergeht, wird nördlich des Polarkreises bald die halbe Bevölkerung den Wintertag mit einer stundenlangen Sitzung vor den Lux-Strahlern beginnen. Andere Wege schlägt Rikard Küller vor. Die Winterdepression sei vor allem ein Zivilisationsproblem. Nicht nur die Wikinger, sondern noch die Urgroßeltern der jetzt Winterdepressiven hätten solche Probleme nicht gehabt. Zurück deshalb zur Architektur des 18. Jahrhunderts, die es viel besser vermocht habe, Tageslicht in die Häuser zu bringen und künstliche Beleuchtung richtig einzusetzen. Ein richtig plazierter Kerzenständer könne mehr gegen die Winterdepression tun als eine mittlere Flutlichtanlage.

Vom alten Hausmittel Alkohol gegen die Winterdepression halten die meisten Ärzte und Wissenschaftler – im Gegensatz zur Mehrheit der Bevölkerung – nicht so viel. Eine Ausnahme, der Arzt Stefan Zetterberg aus dem schwedischen Amal. Seine Therapie: Bierstuben, in denen preislich heruntersubventionierter Gerstensaft angeboten wird. Damit könne man neben den Depressionen aller Jahreszeiten auch eine weitere Fliege klappen: die Einsamkeit. Diese hat er in seiner Praxis als Grund vieler Erkrankungen konstatiert – auch bei besonders hartnäckigen Ausprägungen der Winterdepression. „Schaut man nach England oder Deutschland, wo die Leute sich in einer Kneipe treffen und dort ein Bier trinken können (ein in Schweden weder finanzierbarer noch realistischer Luxus, da es außerhalb der Großstädte so etwas wie Kneipen nicht gibt; R.W.), ganz spontan andere Menschen treffen und mit ihnen reden können: Da gibt es solche Einsamkeitsprobleme nicht.“ Auch wenn das allenfalls tendenziell so richtig ist, könnte doch so eine Kneipenkultur in Schweden tatsächlich das eine oder andere Problem mit der nicht nur ländlichen, sondern auch großstädtischen Einsamkeit lösen.

So verständlich Zetterberg für deutsche Ohren klingen mag, so absolut chancenlos ist natürlich sein Vorschlag in Skandinavien mit seiner rigorosen Alkoholpolitik und immer wachsamen Abstinenzlerbewegung. Es hilft also alles nichts: weg von der Schreibmaschine, hinaus ins letzte Tageslicht. Und wenn's dunkelt, ein paar Kerzen auf den Tisch. Die können sich ja in einem vollen Glas spiegeln – wenn's unbedingt sein muß. Reinhard Wolff