Wegweisende Volksabstimmung: Türkei emanzipiert sich vom Militär
Die Türken haben die wichtigste Verfassungsreform seit Jahrzehnten gebilligt. 58 Prozent stimmten vor allem dafür, den Einfluss der Militärs auf die Justiz zu brechen.
ISTANBUL rtr/afp/taz | In einem wegweisenden Referendum haben die Türken die umfassendste Verfassungsreform in ihrem Land seit Jahrzehnten gebilligt. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Sonntag, das von seiner Regierung vorgelegte Änderungspaket habe etwa 58 Prozent der Stimmen erhalten. Die EU-Kommission begrüßte den Ausgang der Abstimmung und kündigte an, sie werde nun genau auf die Umsetzung der Reformen achten.
Dreißig Jahre nach der Einführung der bisherigen Gesetze durch eine Militärregierung ging es bei der Abstimmung um grundlegende Veränderungen für Armee und Justiz, die den Streit zwischen den säkularen und islamischen Kräften in dem Land neu entflammten. Die Europäische Union begrüßte den Ausgang der Volksabstimmung als Schritt in die richtige Richtung bei den türkischen Bemühungen um einen EU-Beitritt. Aber weitere demokratische Reformen müssten folgen. Ähnlich äußerte sich Bundesaußenminister Guido Westerwelle.
"Die türkische Demokratie befindet sich heute an einem Wendepunkt", sagte Erdogan nach seiner Stimmabgabe im Istanbuler Stadtteil Üsküdar. Das Referendum galt auch als Vertrauenstest für den konservativen Regierungschef und seine islamisch geprägte Partei AKP. Erdogan hatte für die Reform als Schritt auf dem Weg in die Europäische Union geworben. Sie mache das lange von Militärregierungen beherrschte Land demokratischer und moderner.
Kritiker sehen in den Veränderungen dagegen einen weiteren Versuch der konservativ-islamischen Kräfte, die weltliche Ausrichtung des Landes zu untergraben und den Einfluss der Religion zu stärken. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu sagte, die Regierung sei der Kontrolle über die Justiz leider einen großen Schritt nähergekommen. Seine Partei werde sich aber gegen alle Versuche der AKP wehren, die Macht ganz an sich zu reißen.
Zu den umstrittensten Veränderungen zählt die Reform des Verfassungsgerichts, das gemeinsam mit dem Militär als Hüterin des säkularen Charakters des Landes gilt. Das Parlament erhält mehr Einfluss bei der Bestellung von Richtern, der Kreis der in Frage kommenden Kandidaten für die wichtigsten Posten wird vergrößert, ihre Amtszeit auf zwölf Jahre beschränkt. Zudem sollen auch Einzelpersonen das Verfassungsgericht anrufen können.
Mit diesen Regeln allerdings nähert sich die Türkei eigentlich westlichen Standards an. Auch in Deutschland oder den USA benennen die Parlamente die Obersten Richter. Auch in Deutschland ist die Amtszeit auf zwölf Jahre begrenzt. Bisher entschied in der Türkei die Justiz selber über neue Benennungen – wodurch sich der militärische Einfluss auf die Justiz während der Diktatur quasi von selbst erhielt.
Die Militärgerichte sollen künftig nur noch Fälle aus ihrem Bereich verhandeln und dürfen nicht mehr über Zivilisten urteilen. Verfahren wegen Verstößen gegen die Staatssicherheit und die Verfassung werden von zivilen Gerichten übernommen. Die Reform hebt zugleich einen Passus auf, der eine Strafverfolgung der Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrats verhindert.
Der Rat wurde nach dem Militärputsch von 1980 gebildet. Damit wäre der Weg für eine juristische Aufarbeitung der Zeit frei. Erdogan hat offengelassen, ob dies geschehen soll. Die Beteiligung an dem Referendum lag laut Erdogan zwischen 77 und 78 Prozent.
Die EU-Kommission erklärte, die Zustimmung zu den Verfassungsreformen sei "ein Schritt in die richtige Richtung" bei den Bemühungen der Türkei, die EU-Beitrittskriterien zu erfüllen. Allerdings komme es nun auf die Umsetzung der Reformen an. "Eine ganze Reihe von Ausführungsgesetzen wird nötig sein, und wir werden deren Ausarbeitung genau beobachten."
Bundesaußenminister Guido Westerwelle sagte: "Die Verfassungsreform ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg der Türkei nach Europa." Er sei zuversichtlich, dass der Reformprozess in der Türkei im Sinne einer weiteren Öffnung der Gesellschaft fortgeführt werde.
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