: Weg von der Tonkonserve
■ Sie wollen verlorene Hörer zurückholen: Radiomacher fordern für Kulturprogramme mehr Mut zum Experiment
Wieviele Hörer die Kulturwelten der öffentlich-rechtlichen Sender überhaupt noch binden können, weiß niemand so genau. Viele können es nicht mehr sein. Denn bei den Umfragen, die regelmäßig die „Reichweite“ aller Hörfunkprogramme messen, kommen die Kulturwellen mit maximal drei Prozent so schlecht weg, daß verläßliche Vergleiche gar nicht mehr möglich sind.
Vor einigen Jahren noch war es üblich, ein solches Ergebnis mit dem Verweis auf den verfassungsrechtlichen „Kulturauftrag“ und mit der selbstbewußten Rede von den Minderheitenprogrammen vom Tisch zu wischen. Doch heute ist man in den Sendern selbstkritischer geworden und diskutiert immerhin, warum die Hörerschaft überaltert ist und wie man von den verkrusteten Tonkonservenprogrammen wegkommt. Zum Beispiel am letzten Wochenende auf einer Tagung über „Radio-Kultur“ der Evangelischen Akademie Loccum. In einer Zeit, wo wieder eine Erhöhung der Rundfunkgebühren diskutiert wird, stehen die ARD- Sender genauso wie der Deutschlandfunk unter zunehmendem Druck, ihre teuren Kulturwellen zu rechtfertigen.
Dabei könnte nach einer Studie von ARD und ZDF bis zu einem Drittel des Publikums erreicht werden, zumindest als Gelegenheitshörer von Kulturprogrammen. Doch anstatt die fragwürdige Trennung von E- und U-Musik aufzugeben, wird in den meisten Sendern die immergleiche Musik mit den immergleichen Floskeln präsentiert („...wird zu Gehör gebracht...“) , Autoren überbieten sich mit stilistischen Kapriolen, statt eine dem Medium entsprechende Sprache zu verwenden. „Zu viele Rezensionen“, so Gerda Hollunder, Programmdirektorin des DeutschlandRadio Berlin, „hören sich an wie ein Galopprennen, zu dem der Moderator den Startschuß gibt. Das Publikum wird unterwegs abgeworfen.“
Freilich kann es nicht um eine Anpassung an den Dudelfunk gehen, da waren sich die versammelten Radiomacher und -macherinnen einig. Diskutieren wollte man vielmehr eine experimentierfreudige Gratwanderung zwischen Unterhaltung und kulturellem Niveau. Als ein mögliches Modell wurden mehrstündige Sendeformen mit übergreifendem thematischen Schwerpunkt vorgestellt: das „Kultur-Forum“ von S2-Kultur im SDR, die Literatursendung „Kranich 15/19“ von Radio Bremen und „Die lange Nacht“ im DeutschlandRadio.
Alle diese Sendungen arbeiten mit viel Moderation und den verschiedensten Darstellungsformen wie Feature, Diskussion oder Hörspiel. Aufgelockert und gegliedert werden sie durch Musik, die passend zum jeweiligen Thema ausgewählt ist. So gelinge es etwa der „Langen Nacht“, berichtete die zuständige Redakteurin, trotz des ungünstigen Sendeplatzes von 23 bis 2 Uhr neue Zuhörer und Zuhörerinnen zu gewinnen. Jedenfalls freut man sich in der Redaktion, wenn eine gegen zwei Uhr nachts angebotene Literaturliste über dreißigmal angefordert wird.
Bisher allerdings dominieren noch die Visionen. „Mir schwebt ein Radio vor“, sagt der Bremer Kulturredakteur Harro Zimmermann, „das hörbar aus dem Einerlei des unablässigen Mediengeräusches herausfällt“, in dem ein „Klangraum reflektierender und diskutierender Zeitgenossenschaft eröffnet wird“. Ein Radio also, das sich um die Mehrheit der Minderheit (wieder) bemüht und so zu einem „Kulturfaktor“ wird. Thorsten Jantschek
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