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Weg mit der internationalen Solidarität

Heute werden auf den 49. Internationalen Filmfestspielen in Venedig die Löwen vergeben  ■ Von Christiane Peitz

Alle wären sie gerne groß. Edgar Reitz hat den längsten Film in der Geschichte des Kinos gedreht, ein Epos über die sechziger Jahre, Kleinstadt und Boheme, Genie und Terrorismus, Zeitgeschichte und Charakterstudien (zu „Die zweite Heimat“ siehe auch nächste Seite). Die Britin Sally Potter hat Virginia Woolfs „Orlando“ verfilmt, in Petersburg im Winter. Gigantische Eisflächen, Schlösser und Renaissance-Kostüme und am Ende das moderne London: eine Ausstattungsorgie über vier Jahrhunderte, in der die Geschlechterfrage und die Probleme der Schriftstellerei verhandelt werden, außerdem, so die Zwischentitel, Politik, Sex, Liebe, Tod, siehe oben. Der Ire Neil Jordan siedelt sein neues Werk „The Crying Game“ im IRA-Milieu an, zieht aber keine Konsequenzen. Die Geschichte vom britischen Soldaten und seinem Entführer könnte auch in der sizilianischen Mafia oder bei den Gangstern in Chicago spielen. Hauptsache Thrill. Der Rumäne Dan Pita will sein „Hotel de Lux“ als Allegorie auf sämtliche Diktaturen auf einmal verstanden wissen; im Abspann weist er darauf hin, daß dies nicht nur in Rumänien, sondern überall geschehen sein könnte. Luis Puenzo siedelt Camus' „Die Pest“ zwar in Buenos Aires an, aber beteuert mit jeder Kameraeinstellung: Argentinien, das ist die Welt. Der Trend geht aufs Ganze. Selbst Bigas Luna bemüht sich in seiner Spanien- Parodie „Jamon, Jamon“ — zu deutsch: „Schinken, Schinken“ — mittels Überzeichnung um Entlarvung des Machismo, ja sogar um komischen Sex, aber ihm gelingen nur ein paar harmlose Witzchen. Selten haben die Chöre so prächtig gesungen, waren die Orchester und Soundmixer so unermüdlich im Einsatz wie in den diesjährigen Biennale-Filmen: Seid umschlungen, Millionen.

Während des Festivals tagte im Hôtel des Bains, dort, wo Viscontis „Tod in Venedig“ gedreht wurde, ein internationales Autoren- und Regie-Symposion. Festivalchef Gillo Pontecorvo, dessen „Schlacht um Algier“ 1966 den Goldenen Löwen gewann, hatte geladen, und alle waren da, von Marquez über Schlöndorff bis Sean Penn. Man hielt flammende Reden für die Freiheit des Kinos und versprach einander internationale Solidarität gegen das Diktat Hollywoods, die Homogenisierung der Geschmäcker und Verflachung der Filmkunst. Die hochkarätige Runde gebärdete sich nach Art eines Naturschutzvereins, mit dem einzigen Resümee, nächstes Jahr wieder zusammenzukommen. Sean Penn wanderte gelangweilt in sein Hotelzimmer ab, Frankreichs Kulturminister Jack Lang verschwand nach einer halben Stunde Richtung Flughafen; schon mittags war das ganztägig angesetzte Treffen vorzeitig beendet.

Auf den Pressekonferenzen machte sich Maastricht breit. Kaum tauchte ein Filmemacher auf, der keine EG-Sprache spricht, war es mit der Verständigung vorbei. Nicht einmal ein Spanisch-Dolmetscher stand für den Puenzo-Termin zur Verfügung, so reichte es nur für Allgemeinplätze über die Frauen an sich und die leichtere Vermarktung von Filmen mit universellem Anspruch. Dem Diktat, dem zu trotzen alle so lautstark versicherten, hat sich die Filmwelt längst unterworfen. Wenn die Welt ein Dorf ist, hat das Autorenkino ausgedient.

Manchmal genügt ein Gesicht. Tilda Swintons Renaissance-Gesicht zum Beispiel. Wenn die „Orlando“- Darstellerin (man kennt sie aus den Jarman-Filmen) die Straße am Lido überquerte, stockte einem der Atem. Ein Gesicht aus einem anderen Jahrhundert, von androgyner, seltsamer Ausstrahlung. Die zarten Züge, die blasse Haut, der überlange Hals — ein Botticelli, nur echt. Immerhin weidet sich auch Sally Potters Film an ihrem Anblick, vor allem an der Linie zwischen Hals und Kinn und widmet ihm Großaufnahme nach Großaufnahme. Orlandos Geschlechterwandel — zwischen dem 17. und 18.Jahrhundert wird der Edelmann zur Frau — ließe sich allein in Swintons Gesicht vollziehen und angesichts der Ebenmäßigkeit ihrer Haut, die die Konsistenz eines Gemäldes hat, erübrigt sich jede Erörterung von Kunst und Leben im Off. Man sieht das Problem.

Aber Potter weiß nicht, wie trefflich sie Orlando besetzt hat. Sie verkleidet Swinton. Die Zofen schnüren Orlandos Korsett, dazu Schleifen, Spiegel, Reifröcke. Kunst und Leben — ein Slapstick-Dialog mit dem verarmten Dichter, der seine Mäzenin ausnehmen will. Der Ritt durch die Jahrhunderte: eine Frage der Garderobe. Dabei verliert Swintons Botticelli-Gesicht im Renaissance-Kostüm seinen eigentlichen Reiz, die Ungleichzeitigkeit. Potter gestattet sich nicht, genau hinzusehen, sie stattet nur aus. Daß Virginia Woolf in „Orlando“ der unglücklichen Liebe zu ihrer Freundin Vita Sackville-West ein Denkmal gesetzt hat, ficht die Regisseurin nicht an. Sie meint es allgemein feministisch, was interessiert da die Konkretion.

Die Italiener mögen diese Art Kostümfilm. Über keinen Wettbewerbsbeitrag wurde in den Zeitungen so ausführlich berichtet wie über „Orlando“, letzten Gerüchten zufolge ist er preisverdächtig. Zu den Favoriten zählt auch Claude Sautets „Un Coeur en Hiver“, wegen seiner französischen Gediegenheit. Dabei hätte auch er ein Gesicht zur Verfügung: das von Emanuelle Béart. Sautet macht denselben Fehler wie Potter. Statt sein Gemälde zu vervollkommnen, kümmert er sich um den Rahmen, umgibt Béart mit Dior- Kleidern und Ravel-Klängen. So banalisiert er Béarts Blick, seine Mischung aus Trotz und Wehrlosigkeit, zur Modeerscheinung. Sautet hat zuviel Respekt, um Béarts Schönheit anzutasten. Dabei käme sie erst dann zum Vorschein — wie in Jacques Rivettes „La Belle Noiseuse“.

Noch ein Gesicht: das von Gong Li. Die Schlußszene von Zhang Yimous „Geschichte der Qiu Ju“ zeigt eine Großaufnahme der Heldin, die einzige im Film. Auf dieses Bild ist unsere Festspielberichterstattung schon eingegangen, doch ist es in seiner Vielschichtigkeit längst nicht erfaßt. Noch einmal: Gong Li als Qiu Ju bereut darin ihren Gerichtsstreit mit dem Dorfältesten, der ihren Mann bei einer Schlägerei verletzt hatte. Qiu Ju hatte auf ein Schuldbekenntnis bestanden, auf die Anerkennung ihrer Menschenwürde. Das Schlußbild erklärt ihr Ansinnen zur Verirrung, eine für westliche Augen irritierende Unterwerfung des Regisseurs von „Die rote Laterne“ unter die chinesische Zensur. Und doch könnte es auch ganz anders sein: Fällt das Bild vielleicht deshalb ästhetisch aus dem Rahmen, weil Yimou zwar nicht die Wahrheit — sprich: das Recht auf Menschenwürde — zeigen darf, aber wenigstens das Falsche als falsch vorführen will? Wollte der Regisseur ein Sinnbild schaffen für die verflixte Lage der chinesischen Intellektuellen, die nach Tienamen im Land blieben, aber nicht schweigen wollen? Gesteht Yimou seine eigene Ratlosigkeit?

Gong Li ist eineinhalb Stunden lang in dicke wattierte Jacken verpackt, die über ihrem schwangeren Bauch spannen, das Gesicht bleibt in Tücher verhüllt, die Miene verschlossen. Wollte Yimou sie wenigstens einmal auspacken? Ist die Szene am Ende schlicht eine Liebeserklärung an seine Hauptdarstellerin und Ehefrau? Und darüberhinaus ein Plädoyer für den offenen Blick, auch wenn er die Lüge zutage fördert?

Gong Lis Gesicht ist nur ein paar Sekunden zu sehen. Yimous Film ist nicht für den internationalen Markt gedreht, schielt nicht auf den Rest der Welt. Er beschränkt sich auf ein Dorf. Wenn die diesjährige Biennale eine Lehre erteilt, dann diese: Nur wer sich auf die genaue Darstellung einer Person, eines Konflikts konzentriert, kann zur Klärung der großen Fragen beitragen.

Act local, think global. Taverniers „Auf offener Straße“: das Drogenproblem aus Sicht der Polizeibaracke. In Frankreich haben sich sämtliche politische Lager beschwert. Den Linken ist der Film zu rassistisch, dem Innenminister zu beamtenfeindlich. Die Kontroverse lohnt sich. Der Staatsbürger Tavernier plädiert für die Aufrüstung der Polizei, sein Film tut etwas anderes: Er nimmt einen bestimmten Blickwinkel ein und begreift nicht mehr als die Fahnder selbst. Er spielt nicht den Richter, hat keinen Überblick. So entmystifiziert er die Welt des Verbrechens.

Oder James Foleys Mamet-Verfilmung „Glengarry Glen Ross“: Ein paar Makler in einem Büro. Krieg der Worte, weiter nichts. Und doch läßt sich allein an Jack Lemmons Mienenspiel mehr über Amerikas Rezession lernen als bei der Lektüre noch so vieler Wirtschaftsseiten. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit. Die selbstzerstörerische Unterwerfung unter die Macht des Geldes, die jede Existenz definiert. In den USA wirbt der Verleih mit dem Slogan: „A movie for everbody who works for his living“.

Oder Iosseliani. Seine alten Damen im französischen Schloss waren die einzigen Heldinnen in diesem Jahr am Lido, denen das Kino ein Fest bereitete. Hunderte von kleinen Geschichten und liebevollen Augenblicken. Iosseliani befreit die Bilder von jeglichem Zwang, daß einem die Augen übergehen. Persönlich ist der Georgier ein Reaktionär. Trotzdem hätte „La Chasse aux Papillons“ den Goldenen Löwen verdient. Manchmal muß man ein Werk gegen den Autor verteidigen.

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