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Archiv-Artikel

Was wäre, wenn nicht?

FOLGENABSCHÄTZUNG Dieser Tag hatte schwere Konsequenzen. In ihm wird der Ursprung für Gesetze und Kriege gesehen, für Bushs Wiederwahl und Obamas Wahl. Zu Recht? Unsere Autorin dekliniert das lieber noch mal durch

Die Fotos von Olivier Culmann im sonntaz-Spezial

■  Der Fotograf: Olivier Culmann, 41, wird von der Agentur Focus vertreten. Er lebt in Montreuil bei Paris und gehört zum Tendance-Floue-Kollektiv, das seit über 20 Jahren die Unabhängigkeit des französischen Fotojournalismus bewahrt. Gut drei Wochen nach 9/11 reiste Culmann zum ersten Mal nach New York.

■  Das Projekt: Statt wie viele andere Fotografen die Überreste des World Trade Centers abzulichten, waren es die Gesichter der Menschen am Ground Zero, die Culmann genau studierte. Das große Loch im Rücken dokumentierte er dort mit der Mamiya 6, einer Analogkamera, die Blicke der Stadtbewohner und Touristen.

■  Die Aufnahmen: Culmanns Bilder erzählen von Schock und Ungläubigkeit wenige Tage nach den Anschlägen. Und von Faszination und Fotogeilheit. Die Arbeit wurde mit dem Roger-Pic-Preis der Société civile des auteurs multimédia ausgezeichnet. Zu sehen sind die Fotos der Reihe „Autour“ auf den Seiten 14–17, 24, 25, 32 und 33.

VON BETTINA GAUS

Wer hat von den Anschlägen des 11. September 2001 am meisten profitiert? Die Islamisten? Deren Gegner? Die Rüstungsindustrie? Die Produzenten der Plastiksäckchen, in die jetzt Flüssigkeiten an Bord von Flugzeugen verpackt werden müssen? Jede Antwort auf diese Frage setzt voraus, dass die Entwicklung für die Nutznießer der Attentate anders verlaufen wäre, stünden heute die Twin Towers noch. Die Behauptung, dass sich seit dem 11. September das gesamte globale Koordinatensystem verändert hat, ist zum Axiom geworden. Was nicht bedeutet, dass sie stimmen muss.

Lässt sich die Behauptung denn überhaupt bestreiten? Allein ein Blick auf den Anstieg des Wehretats der Vereinigten Staaten von knapp 380 Milliarden Dollar im Jahr 2001 auf mehr als 700 Milliarden Dollar heute scheint doch die These zu bestätigen. Schließlich ist diese Kostenexplosion einer der Hauptgründe für das gigantische Haushaltsdefizit der USA – samt allen bedrohlichen Konsequenzen für die Weltwirtschaft. Der „Krieg gegen den Terror“, der nach den Attentaten von New York und Washington vom damaligen Präsidenten George W. Bush ausgerufen wurde, ist eben nicht nur teuer, sondern er und seine Folgen haben die Welt erschüttert.

Beweis erbracht.

Die Argumentation ist schlüssig. Dennoch ist es nur die halbe Wahrheit: Zwar wäre der Krieg gegen die Taliban in Afghanistan nicht auf diese Weise und nicht zu diesem Zeitpunkt erfolgt, hätte es die Anschläge vom 11. September nicht gegeben. Aber der Krieg gegen Saddam Hussein hatte damit nicht das Geringste zu tun. Der wurde unter einem Vorwand begonnen, ganz unabhängig vom Terrorismus. Josef Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, bezifferte die Gesamtkosten des Irakkrieges für die USA bereits 2008 – zwei Jahre bevor Präsident Barack Obama ihn offiziell für beendet erklärte – auf 3 Billionen Dollar. Das allein hätte für ein ziemlich eindrucksvolles Haushaltsdefizit schon gereicht.

So wahr es also ist, dass die Rüstungsindustrie an den Attentaten vom 11. September gut verdient hat, so wahr ist auch, dass sie nicht nur und vielleicht nicht einmal in erster Linie davon profitierte. Sondern vor allem von der festen Überzeugung des ehemaligen US-Präsidenten, politische Probleme mit militärischen Mitteln lösen zu können. Und: So wahr es ist, dass der Krieg in Afghanistan islamistischen Gewalttätern neue Rekruten zutrieb, so wahr ist auch, dass in dieser Hinsicht die blutige Ernte des Krieges im Irak noch sehr viel ertragreicher war.

Gelegentlich wird übersehen, dass der islamistische Terror nicht erst am 11. September 2001 begonnen hat. Bei Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam am 7. August 1998 starben 224 Menschen, mehrere tausend wurden verletzt. 2004 und 2005 explodierten Bomben in öffentlichen Verkehrsmitteln in Madrid und London. Ist es vorstellbar, dass der Westen gelassen auf eine Serie derartiger Terrorakte reagiert hätte – wenn denn nicht die Attentate vom 11. September den Frontverlauf bereits so klar definiert hätten? Anders ausgedrückt: Haben die Anschläge von New York und Washington tatsächlich die Welt verändert – oder werden sie in ihrer Bedeutung überschätzt? Sähe die politische Landkarte heute möglicherweise weitgehend genauso aus, wäre das World Trade Center nicht zerstört worden?

Viele politische Beobachter scheinen eine solche Frage für absurd zu halten. Es sei doch ein Trauma in den USA, dass sie, undenkbar seit Pearl Harbor, auf ihrem eigenen Grund und Boden angegriffen wurden. Die Welt habe sich fundamental verändert, weil sich die Stimmung in den Vereinigten Staaten grundlegend gewandelt habe.

Es gibt Anlass, an dieser – eher schlichten – Analyse zu zweifeln. Nicht daran, dass der Schock in den USA tief saß und noch immer sitzt. Aber durchaus daran, dass die Bevölkerung dort tatsächlich noch immer so fixiert ist auf das Thema Terror, wie der empathische Teil der Welt glaubt.

Im nächsten Präsidentschaftswahlkampf wird es überwiegend um innenpolitische Themen gehen. Barack Obama ist 2008 übrigens auch nicht in erster Linie aus außenpolitischen Gründen gewählt worden, sondern weil eine Mehrheit einfach fand, es sei mal wieder an der Zeit für einen grundlegenden Wechsel. Auch diese Pendelbewegung zwischen den beiden politischen Lagern ist keineswegs neu, sondern seit vielen Jahrzehnten konstituierend für den politischen Frieden in den USA. Mit den Anschlägen vom 11. September hat das nichts zu tun.

Bushs zweite Amtszeit

Die Erörterung der Frage, ob die Welt ohne die Attentate heute tatsächlich ganz anders aussähe, krankt natürlich an einem Schwachpunkt. Sobald ein Ereignis erst einmal stattgefunden hat, lässt sich in jedem Einzelfall darüber streiten, in welchem Umfang ein anderes Ereignis davon beeinflusst worden ist. Ob George W. Bush den Irakkrieg überhaupt hätte beginnen können, hätte er nicht vorher militärische Stärke in Afghanistan demonstriert, oder ob ihm ohne die Anschläge vom 11. September eine zweite Amtszeit vergönnt gewesen wäre – darüber kann man diskutieren, aber man kann den jeweils eigenen Standpunkt nicht beweisen.

Wenn die Theorie stimmt, derzufolge der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen kann: weshalb dann überhaupt die revolutionierende Wirkung von 9/11 in Zweifel ziehen? Weil die Tatsache, dass sich ein Beweis schwer führen lässt, ja niemanden der Aufgabe enthebt, etwas in die richtige Perspektive zu rücken. Und weil es auch für die Zukunft nicht bedeutungslos ist, ob Terroristen ernsthaft glauben dürfen, durch eine einzige, gut geplante Tat die Welt verändern zu können. Wäre das tatsächlich der Fall: Sie wären die größten Profiteure der Anschläge – mit so weitem Abstand, dass man über andere Nutznießer gar nicht mehr reden müsste. Aber vieles spricht eben dafür, dass dies nicht der Fall ist.

Keine Missverständnisse. Es geht in diesem Artikel nicht darum, die große Bedeutung des 11. September zu leugnen. Das wäre nicht mehr als ein ziemlich alberner Versuch, originell sein zu wollen. Selbstverständlich hatte und hat dieser Tag weit reichende Folgen. An der Peripherie der Macht vielleicht noch mehr als in deren Zentrum.

Die Profiteure in Somalia

So ist es sehr fraglich, ob die ohnmächtige, sogenannte Übergangsregierung im Bürgerkriegsland Somalia – eine der Profiteurinnen – sich auch ohne die Zerstörung des World Trade Center einer vergleichbar großen Unterstützung durch Washington erfreuen dürfte. Vielleicht hätten sich die USA andernfalls mit einer islamistischen Regierung in Mogadischu abgefunden und diese dem jetzt herrschenden Zustand völliger Gesetzlosigkeit vorgezogen. Sie haben ja mit regierenden Islamisten nicht überall Probleme. Siehe Saudi-Arabien.

Auch in Deutschland hätten diejenigen, die schon seit vielen Jahren für schärfere Sicherheitsgesetze kämpfen, es ohne 9/11 schwer gehabt, das Bündel von gesetzlichen Maßnahmen zur angeblichen Bekämpfung des Terrorismus durchzusetzen, das jetzt wieder und wieder verlängert wird. Aber gerade die Entwicklung in Deutschland zeigt, dass die Wirkung der Anschläge vom 11. September begrenzt ist: Der Wunsch nach einer Verfassungsänderung, die den Einsatz der Bundeswehr im Inneren erlaubt, ist den Law-and-Order-Politikern bis heute verwehrt geblieben. Und wer vermag zu sagen, ob nicht auch ohne den Einsturz der Türme in New York der Eindruck der Anschläge in Madrid und London wirkungsmächtig genug gewesen wäre für schärfere Sicherheitsgesetze?

Die Entwicklung in Deutschland ist ein gutes Beispiel für Ausmaß und Grenzen der Bedeutung von 9/11: Ja, konservative Innenpolitiker hatten es wohl leichter, als sie es sonst gehabt hätten, ihre Gesetze durchzusetzen. Sie profitierten vom Schock, den die Attentate ausgelöst hatten. Aber diese konnten eben auch nicht jedes Misstrauen gegen einen als übermächtig empfundenen Staat auslöschen. Im Kern hat sich das politische Klima in Deutschland durch den 11. September nicht verändert.

Und wie sieht es mit der – im Hinblick auf revolutionäre Veränderungen – vielleicht wichtigsten Entwicklung dieses Jahres aus? Dem arabischen Frühling? Dort spielen Terrorbewegungen nicht die geringste Rolle. Gut möglich, dass am Ende in einigen Ländern säkulare Tyrannen von islamistischen Regierungen abgelöst werden. Weder die Demokraten noch die religiösen Eiferer sehen sich jedoch als Erben von al-Qaida. So bedeutend findet weder die eine noch die andere Seite die Terroristen. Das ist doch eigentlich eine gute Nachricht. Auch der Profit, den Gewalttäter aus ihren Taten ziehen, hat Grenzen. Enge Grenzen.

Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der taz