: Was nun? Und wohin?
Olaf Thomsen
Inzwischen glauben wir unserer Taten in jedem Augenblick Herr zu sein. Allein, wenn wir auf unsern zurückgelegten Lebensweg zurücksehn und zumal unsere unglücklichen Schritte, nebst ihren Folgen, ins Auge fassen; so begreifen wir oft nicht, wie wir haben dieses tun oder jenes unterlassen können; so daß es aussieht, als hätte eine fremde Macht unsere Schritte gelenkt.“ (Schopenhauer) Wer, wenn auch nur für einen Moment zur Besinnung gekommen, fühlte sich heut nicht alle Nase lang vom feierlichen Atem des historischen, ganz einmaligen, unwiederbringlichen Augenblicks angeweht? Wer, in der Frage nach dem bei allem Wandel doch in sich ruhen(sollen)den DDR-Identischen, hätte nicht schon wegen der Denkbeulen Badekappen mit Abnähern nötig? Wer traute sich hier jetzt bereits an eine Antwort, wo doch, wie unlängst festgestellt, „jetzt erst der Prozeß begonnen hat, in dem sich eine DDR-Identität artikuliert“ (Wolfgang Ullmann)? Und kündigt zuletzt nicht die Niederkunft der Vergangenheit in Nikaragua davon, daß seit längerem schon - um es hier mit Paul Valery zu sagen die Zukunft auch nicht mehr das ist, was sie mal war? Gibt es insofern etwas zu bedauern, daß es lohnte, als Urbild für die Maßgaben der anderen Gesellschaft, auf die hier (und nebenan) zugegangen wird, die sozialen und moralischen Herkömmlichkeiten unserer realsozialistischen Urzeit zu bemühen? Hegel: „Wenn eine Veränderung geschehen soll, so muß etwas verändert werden. Eine so kahle Wahrheit ist darum nötig gesagt zu werden, weil die Angst, die muß, vor dem Mute, der will, dadurch sich unterscheidet, daß die Menschen, die von jeher getrieben werden, zwar die Notwendigkeit einer Veränderung wohl fühlen und zugeben, aber, wenn ein Anfang gemacht werden soll, doch die Schwachheit zeige, alles behalten zu wollen, in dessen Besitz sie sich befinden.“ Ein Anfang wurde gemacht, und niemand wird die Unentbehrlichkeit der Revolution in unserem Lande in Zweifel ziehen können. Sie war notwendig, denn sie hat eine Not gewendet; und heute zu betrauern, daß dieser Bewegung die Ursprünglichkeit ihrer Ziel- und Sinngebung abhanden gekommen wäre, hieße anzunehmen, daß man von allem nur immer einen Teil hätte zerschlagen, den anderen jedoch hätte behalten können. Ein Denken in derartigen Konjunktiven aber trägt nicht und macht den Kopf düster. Es dämmert eben die Einsicht, daß der Pfeil, der von der Sehne flog, bereits nicht mehr dem Schützen gehört, daß also die Mystik des gesellschaftlichen Lebens offensichtlich nur für kurz durch die Unmittelbarkeit des tatsächlich gestaltenden Willens der Menge aufgehellt und durchbrochen werden konnte und daß nach denm titanischen Ächzen des Aufbruchs nunmehr im deutsch-deutschen Einheitskrisenmanagement die Mühen der Tiefebene auf Dauer ausgehalten werden müssen.
Auch scheinen sich schon bald mit Volk und Regierung wieder die Macht der Gewohnheit und die Gewohnheit der Macht gegenüberzustehen, und im Zynismus einer sich vor Altruismus gleichsam überschlagenden Bundesregierung erhält eine große Tragödie ihre Pointe. Ein durchaus zwiegesichtiger Liberalismus läßt die Dritte Welt nicht auch die Dritte mit im Bunde sein, sondern läßt eher verlauten: „Der Mensch ist frei, ist frei, und wär‘ er in Ketten geboren! ...“ Die DDR hat längst beschlossen, sich als Ganzes zu verlassen; Quelle und Karstadt haben der Moral den Fangschuß gegeben, und jede andere Alternative scheint so vertrauenerweckend wie ein Lokführer mit Sicherheitsgurt.
Was nun? Und wohin? Erst das Proletariat als Totengräber des Bourgeois, dann aber der wegen Konsumbrot, Verrat und Langeweile vertriebene Werktätige, der sich aus der sozialen Nestwelt (mit dem letzten Endes doch zu hohen Preis) hinauskatapultiert. Etwas später ein weiterer Teil revoltierend auf der Straße und bald schon vor den Trümmern der Ursache seiner politischen Opposition. Andere wiederum wurden endgültig die Opfer ihres eigenen Gesetzeskults (den Fortgang des Historischen betreffend). Nun fragt mach sich, wo angesichts all dessen ein fester Grund zu finden wäre, auf den sich bauen ließe; wie der zermürbenden Ambivalenz aus Bewahrenwollen und Erschaffenkönnen wenn möglich noch moralisch sauber, zu entkommen wäre: Realo handeln und ein Fundi bleiben.
Was die Frage einer wirklich lebbaren Alternative betrifft, so hat sich zumindest in Europa wohl die bislang realsozialistische Lesart endgültig erledigt. In dieser Hinsicht ist ein Weltmodell zusammengebrochen, und alles mögliche Bedauern, der Beigeschmack von Tragik wie auch die dumpfe Wehmut über den Verlust an Würde sind zum einen hier nicht immer angemessen, zum anderen nicht eben motivierend. Und außerdem gerinnt in solcher Lage jede Geste der Erinnerung zur schlotternden moralischen Gebärde, über die von kalt handelndem Pragmatismus - und gerade gegen diesen hätte sich benannte Geste ja zu richten - ohnehin hinweggegangen wird. Was aber bleibt, nachdem das einmal festgestellt ist?
Es bleibt gewiß die Scheu vor dieser Schnelligkeit, Gerafftheit, zu der sich die Geschichte offenbar ebenso bleibend entschlossen hat; es bleibt das Bedürfnis nach Überschau, nach der Möglichkeit, den Gang der Dinge ordnend zu reflektieren, um dann daraus das eigene Urteil einigermaßen in Ruhe zu destillieren. Es bleibt vielleicht auch der schale Eindruck, zwar zum einen zumindest erfahren zu haben, wie der Würde eine Lanze gebrochen worden ist, zum anderen sich jedoch dann der Vermutung nicht entziehen zu können, daß die weitere Vollzugsgewalt zunehmend einer anderen Kraft als der eigenen, originären, überlassen wurde. Auf diese Art schleicht sich zusehends ein Zug von Fremdheit ins Geschehen: die Geister, die man rief usw. „Gemeinsam aber“, läßt Hesse Narziß sagen, „ist allen Menschen, die des guten Willens sind, dieses: daß unsere Werke uns am Ende beschämen ...“ Das Beschämende aber in unserem Falle ist nichts als die sich wieder ankündigende Objektivität des Irdischen, die wieder Raum gewinnt, und das DDR-Identische nun besteht zu einem gut Teil in der zugleich in uns raumgreifenden Beklommenheit, die nicht wenig dieser Ankunft in einem anderen Alltag geschuldet ist.
Wenn oben gesagt wurde, daß Sehnsucht und Bedauern sich doch eher in Grenzen halten sollten, so war damit zugleich ausgesprochen, daß es hier nicht darum geht, zum Beispiel eine bald anlaufende breite Verfassungsdiskussion deswegen, weil sie auch mit DDR-Inhalt anzufüllen sein wird, schon für absurd zu erklären oder alle Überlegungen rundweg abzuweisen, die sich mit der Identität der Bevölkerung eines ehemals Möchtegern-Sozialismus beschäftigt. Vielmehr geht es dem Autor darum, denjenigen, die - zugegeben oder nicht noch immer ganz und gar in das Problem der unauflösbaren Zugehörigkeit zu ihrem Herkommen verstrickt sind und nicht aus ihm herausfinden oder immer tiefer da hineingeraten und sich auf diese Weise schlichtweg jeder Alternative berauben
-zuzurufen, ob sie für alle Dauer die ewig Weilenden bleiben wollen, oder ob sie vielleicht nicht doch eher den Gang wagen aus solchem deutsch-deutschen Zwiespalt, der von der Vergangenheit und nur allzuoft von Fiktionen zehrt, hin zu einer Auseinandersetzung heut und morgen zwischen einheitsdeutschem Rechts und Links.
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