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■ Kriminalität geht zurück, Ganoven haben keine Lust mehrWas nun, Herr Kanther?

Das eigentlich Erstaunliche an der gestern vorgelegten Kriminalitätsstatistik ist, daß sie überhaupt erschien. Innenminister Kanther soll die Präsentation, wohlinformierten Quellen zufolge, verzögert haben, hat dann aber doch in den sauren Apfel gebissen. So mußte ausgerechnet der schwarze Sheriff aus Hessen gestern verkünden, daß erstmals seit 1988 die Anzahl der Straftaten 1994 wieder zurückgegangen ist. Aber hallo! War nicht eines der Hauptthemen gerade dieses Herrn Kanther im Bundestagswahlkampf 1994 der exorbitante Anstieg der Kriminalität, die Unsicherheit auf den Straßen, die alles durchdringenden Metastasen der organisierten Kriminalität?

Ziemlich unwahrscheinlich, daß eine größere Anzahl von Ganoven sich lediglich durch die Wahlkampfrhetorik vom längst geplanten Wohnungsbruch hat abhalten lassen, tatsächlich aber sind gerade die Wohnungseinbrüche um 7,1 Prozent zurückgegangen. Auch die Autoknacker, für die Befindlichkeit der Bundesbürger eine besonders bedrohliche Spezies, schlugen 1994 12 Prozent weniger häufig zu als im Vorjahr. Die Gewaltkriminalität insgesamt ging um 2,7 Prozent zurück. Genau aber mit diesen Delikten wurde Stimmung gemacht, die ausgeräumte Wohnung ist schließlich der Alptraum jedes guten Bürgers.

Da Statistiken gewöhnlich zum Ergebnis haben, was ihre Produzenten haben wollen, muß das wahre Ausmaß des Desasters noch viel größer sein, als Kanther zugeben wollte. Noch immer sorgen jede Menge Begatelldelikte für statistische Masse, Kaufhausdiebstähle beispielsweise, die im sogenannten Täter-Opfer-Ausgleich längst hätten entkriminalisiert werden können; genau wie eine große Zahl von Rauschgift- und in deren Folge Beschaffungsdelikten. Die seit langem geforderte Freigabe weicher Drogen für den Eigenbedarf, in einzelnen Bundesländern derzeit ernsthaft diskutiert, würde Kanthers Wahlkampfpropaganda statistisch endgültig erledigen. Solange die CDU regiert, müßte die Kriminalitätsstatistik zur geheimen Kommandosache erklärt werden, wie wollte die Partei – siehe gerade jetzt die CDU-Kampagne gegen die angebliche Vietnamesen-Mafia in Berlin – sonst überhaupt einen Wahlkampf organisieren?

Doch Kanther braucht sich wahrscheinlich keine allzu großen Sorgen machen. Die Frage ist, ob die nicht betroffenen Deutschen die frohe Botschaft überhaupt zur Kenntnis nehmen. Die Angst der Deutschen, Opfer einer Straftat zu werden, steht schon lange in keinem realen Verhältnis mehr zur tatsächlichen Wahrscheinlichkeit. Diese Angst wird sich, darauf kann Kanther bauen, als resistenter erweisen als alle Statistik. Jürgen Gottschlich

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