: Was ist eigentlich Herrn Walsers Furcht? –betr.: Walsers „Friedens“-Preisrede: eine abschließende Analyse
Es geht nicht um Frieden, sondern um Befreiung. Und Walser verwechselt offensichtlich nicht nur diese Kategorien. Das allein sollte analysiert werden.
Um es als Bild deutlich zu machen: Walsers Kreisbewegungen hin zur neuen Innerlichkeit des deutschen Volkes (hatten wir das nicht schon öfter?) sind in etwa so aufgebaut: Der äußere Kreis ist die deutsche Wiedervereinigung und das vereinte Deutschland Ende der 90er Jahre. Der nächste innere Kreis ist die Geschichte des eingekerkerten deutschen Spions, die dann zur gefangenen deutschen Seele instrumentalisiert (!) wird. Im innersten Kreis also das deutsche, empfindsame Ich, von der Geschichte gefangen. Will es sich befreien, muß es alle diese Kreise durchbrechen, zuerst aber den des Holocaust. Der Weg führt dabei über Auschwitz und die Geschichte des Holocaust, die, indirekt, für das heutige Schicksal des deutschen Volkes verantwortlich gemacht wird.
Nicht nur die Deutschen waren damals am Holocaust schuld, sondern der Holocaust ist darüber hinaus an der heutigen, in die Enge getriebenen und gefangenen deutschen Seele schuld. Das gelte für alle Deutschen, wie der Autor glauben machen will. Ich bin Deutscher, und ich wehre mich gegen dieses Bild des Gefangenen. Die Gedanken sind frei, aber anscheinend nicht die Walsers. Wenn er das gute Gewissen abschafft, um den DDR-Spion alias die deutsche Seele zu befreien, und damit auch das schlechte Gewissen „Auschwitz“ mit abschaffen muß, dann geschieht das über eine doppelte moralische und menschlich fragwürdige Perspektive.
Nicht nur, daß er das Schicksal eines einzelnen (des Spions) für sein persönliches Unternehmen der Befreiung der deutschen Seele instrumentalisiert und so dieses Schicksal relativiert, nein, er muß auch Auschwitz und das heißt: die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts relativieren. Erst wenn alle Deutschen (!) mit Auschwitz kein schlechtes Gewissen mehr verbinden, wären sie frei. „Befreien“ wir uns also von Auschwitz und der Geschichte, erklären wir den „Meinungssoldaten“, so Walser, den Kampf!
Wenn ich mich recht erinnere, dann wäre das nicht der erste deutschtümelnde Befreiungskampf in diesem Jahrhundert. So kann nur einer denken, der sich als Gefangener fühlt, der aber nichts weiter als ein Gefangener seiner eigenen Gedanken und des Hirngespinstes eines in die Enge getriebenen deutschen Geistes ist.
Ich behaupte hingegen: Herr Walser hätte eher geistige Freiheit statt moralischer Freiheit fordern sollen, wenn er schon deutsche Geistesgrößen zu Hauf zitiert! Ein freier Geist kann sehr wohl, zumal als Deutscher, mit Auschwitz leben, ein Moralapostel der alten deutschen Innerlichkeit wie Walser aber offensichtlich nicht. [...] Frieden erreicht man nicht über Kampfansagen, auch nicht über Moral. Diplomatie und Geistesgröße waren die besseren Instrumente gewesen. Es gibt nichts zu verteidigen, erst recht nicht die Freiheit der deutschen Seele. Erst wer begriffen hat, daß er nichts zu befürchten hat, außer daß er sich irren könnte, muß sich auch nicht mehr selbst verteidigen. Also frage ich: Was ist eigentlich Herrn Walsers Furcht? Er leugnet nicht Auschwitz, sondern die Freiheit des Geistes, die in seinem Bild der deutschen Befindlichkeit offensichtlich gänzlich gefangen ist. Er sollte sich besser von seinem Deutschtum befreien, um Frieden zu finden. [...] Markus Hallensleben, Berlin
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen