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Was hat Sucht mit Gier zu tun?

Mit dem bisher größten Modellversuch proben Brandenburger Schulen die Einführung von Ethik und Lebensgestaltung statt Religion als Pflichtfach  ■ Von Karin Flothmann

Die drei Mädchen steuern das Sofa an, Andreas läßt sich in einen Sessel fallen. Aus dem Radio dröhnt Rap. „Der falsche Sender“, findet Kathrin. Sie schwingt sich nochmal auf und dreht am Radio. Es erschallen hymnische Klänge von Vangelis: „Conquest of Paradise“. Die sollen es sein. „Mehr als sechs werden wir heut‘ wohl nicht“, verkündet Birgit aus der Sofaecke. Es ist ein Uhr mittags. Als letztes steht heute LER auf dem Stundenplan:„Lebensgestaltung – Ethik – Religion“.

An 44 Brandenburger Schulen wird dieses Fach in den Klassen 7 bis 10 anstelle von Religionsunterricht angeboten. Noch steckt es in der Versuchsphase. Am LER-Unterricht, von Bildungsinitiativen und Kirchen in der Wendezeit konzipiert, nehmen seit 1992 rund 7.000 Schülerinnen und Schüler teil. Da mehr als 80 Prozent der BrandenburgerInnen keiner Religionsgemeinschaft angehören, entwickelten die BildungspolitikerInnen ein Schulfach, das Werte vermitteln und Lebensorientierung bieten soll. Die Konzeption liest sich wie eine neue Auflage alter Reformideale: Toleranz und soziales Verhalten, Ichstärke und Konfliktstrategien – für all dies ist die Schule, ist LER gut. Diesen Sommer wird der Potsdamer Landtag entscheiden, ob LER in Brandenburg Pflichtfach werden soll.

„Das wird ja richtig kuschelig heute“, meint Kathrin. Eigentlich sind sie nicht nur sechs, wie heute, sondern zehn, wenn's um die Lebensgestaltung geht. Ihre Klasse, die 8 c, wurde für den LER-Unterricht halbiert. „So können die Schüler besser über sich und ihre Probleme reden als in großer Runde“, erklärt Christine Mickel. Seit 1992 ist sie LER-Lehrerin an der Potsdamer Tagesschule Rosa Luxemburg. Außerdem unterrichtet sie Chemie und Biologie. Und das tat die 48jährige auch schon zu DDR-Zeiten.

Christine Mickel schaltet das Radio aus. Heute soll es um Sucht gehen. „Was magst du am liebsten?“, lautet die erste Frage. Zettel und Stifte werden verteilt. Während Martin noch unlustig mit seinem Blatt herumspielt, legt Kathrin los: „Meinen Bruder verarschen.“ Gesagt, geschrieben. Laut tauscht sie mit zwei anderen Mädchen Ideen aus. Am Ende mögen sie alle dasselbe: „Lachen, schlafen, quatschen, flirten.“ Obwohl, so ganz sicher ist Kathrin sich beim Flirten nicht. Mit trotziger Miene verkündet sie: „Das brauch‘ ich nicht“. Und fährt sich mit den Fingern durch die blonden Strähnen.

Ulrike sitzt etwas abseits. Schüchtern liest sie ihre Stichworte vor. Sie mag Besuche bei ihrer Oma. Keine lacht, die Lehrerin nickt freundlich. Die beiden Jungen beraten leise, was sie aufschreiben sollen. Martin gibt sich dann sportlich, Mopedfahren und Boote stehen auf seiner Hitliste. Andreas kann sich für Waldspaziergänge und für Musik erwärmen. „Und außerdem Super-Nintendo.“ Die 14jährige Birgit weiß sofort, was Sache ist. „Mit Spielsucht raubste dir deine Freizeit“, kommentiert sie, und Andreas guckt konsterniert.

Rollenspiele und Liebesgedichte ohne Noten

Marianne Birthler vom Bündnis 90 hatte als brandenburgische Bildungsministerin den LER-Modellversuch in Kooperation mit der evangelischen Kirche gestartet. Schon damals interessierte sich Christine Mickel dafür, sie wollte selbst neue Unterrichtsformen ausprobieren: „Früher, da stand man halt vor der Klasse, und dann ging alles nach Schema F.“ Und F stand für Frontalunterricht. Seit 1992 besucht Mickel mit etwa hundert weiteren LER-Lehrerinnen und Lehrern Fortbildungen des Pädagogischen Landesinstituts für Bildung. Psychologische Kenntnisse stehen da im Vordergrund. Die Kirchen sehen das mit Unwillen, ihnen fehlt die religiös-konfessionelle Seite des Unterrichts. Doch klassische Glaubenslehre würde das Fach LER ohnehin nicht bieten; geplant ist vielmehr, den SchülerInnen Wissensstoff über die verschiedenen Religionen der Welt zu vermitteln.

„Die Kinder interessieren sich einfach kaum für Religion“, meint Christine Mickel. „Die stecken alle mitten in der Pubertät. Da gibt's ganz andere Probleme.“ Zumal die Kinder in Brandenburg erst nach der sechsten Klasse von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule wechseln. „Die 7. Klasse ist doch gerade das Alter, wo unsere Schüler ein bißchen Halt brauchen.“ Für die Lehrerin steht deshalb das „Ich“ der SchülerInnen im Mittelpunkt. Da geht's um das bisherige Leben, das in Form einer Lebenskurve aufgezeichnet wird. Rollenspiele sind in. Es wird gezeichnet, geklebt, gedichtet, geschrieben oder auch mal vorgelesen. „Was war das für ein Jux, als wir mal eine ganze Stunde lang Liebesgedichte gelesen haben. So richtig alte, schwülstige.“ Freundschaft, Liebe und Sex, das sind die Themen, die die Welt der 14jährigen bewegen.

„LER, das ist ganz locker.“ Da sind sich die SchülerInnen der 8 c einig. Noten gibt's keine. Und das ist allen besonders wichtig: „Da kann es im Unterricht auch mal sehr persönlich werden“, sagt Birgit. Auch Gabriele Schulter, die stellvertretende Schulleiterin der Gesamtschule, verspricht sich einiges von dem neuen Fach. Zwischen Lehrern und Schülern entstehe mehr Vertrauen. Einzelgespräche seien jetzt öfter möglich. Christine Mickel sieht LER vor allem als Chance, „näher an die Schüler heranzukommen“.

In der Mitte des Kreises liegen mittlerweile drei Blätter Papier: „Begierde“, „Leidenschaft“, „Sucht“. Was ist was? „Nennt mir noch andere Begriffe, die dazupassen könnten“, fordert Christine Mickel die Runde auf. „Bei Leidenschaft könnense Matratzensport hinschreiben“, assistiert Kathrin trocken. Die Mädchen kichern. „Abschlabbern ist das auch“, setzt Kathrin nach. Die Lehrerin übergeht das geflissentlich. Sie schlägt das Lexikon auf und liest einige Definitionen vor. Danach herrscht Stille. Bei Christine Mickel bricht die Naturwissenschaftlerin durch. Sie will Ergebnisse, Antworten möchte sie hören: „Leidenschaft, das hat doch was mit dem eigenen Willen zu tun,“ drängt sie. „Und Sucht, hat Sucht auch was mit Willen zu tun?“ Niemand antwortet. „Nun, was meint ihr?“ Wieder schweigen alle. Erst nach einigen Sekunden sagt Verena: „Nee, die macht abhängig.“ „Richtig“, quittiert die Lehrerin. Und diktiert: „Im Lexikon stand bei Leidenschaft auch Glut. Kathrin, bei Leidenschaft schreibst du noch Glut dazu.“

An das Schulfach LER seien von Anfang an „überhöhte Erwartungen“ geknüpft worden, meint Achim Leschinsky von der Berliner Humboldt-Universität. Im Auftrag des Brandenburger Bildungsministeriums leitete der Pädagogikprofessor die wissenschaftliche Begleituntersuchung zum LER-Modellversuch. In den letzten Jahren sei eine „Schwächung der erzieherischen Vorleistungen der Familie“ registriert worden. LER könne als Versuch gelten, „diese Defizite in der Schule positiv aufzunehmen.“ Folglich empfiehlt die Untersuchung, LER als Pflichtfach beizubehalten und an allen Schulen einzuführen.

Dafür haben sich in den letzten Wochen auch die Brandenburger SPD-Fraktion und die Wissenschaftsministerin ausgesprochen. Leschinsky indes ist skeptisch. Ihm liegt der Schwerpunkt zu sehr auf der Lebensgestaltung: „Die Schule greift damit zu stark in die Familie ein.“ Udo Winkler vom Landeselternrat Brandenburg sieht das gelassen. „Die gesellschaftliche Entwicklung ist so verworren, daß manche Eltern selbst kaum klarkommen“, meint er. „Wie sollen sie dann noch mit ihren Kindern darüber reden können.“ LER ist für ihn „ein Schritt in die richtige Richtung.“

Die Kirchen wollen Religion – die Schüler nicht

Religionsunterricht sollte dagegen dort stattfinden, wo er hingehöre, in der Kirche. Achim Leschinsky sieht das anders: „Ich würde mir wünschen, daß es in dem Unterricht auch zu Auseinandersetzungen um konfessionelle Fragen kommt.“ Diese Form der Auseinandersetzung kann der Professor jedoch selbst beim kirchlichen Religionsunterricht in Berlin kaum noch entdecken: „Eigentlich sind das längst säkularisierte Therapieveranstaltungen.“

Die 13- bis 14jährigen aus der 8 c gehen inzwischen auf die Suche nach weiteren Süchten. Christine Mickel hat eine Liste mit mehr als 100 Süchten, Lastern und Leidenschaften angefertigt. „Abenteuersucht, die ist toll“, findet Andreas. Und auch der Arbeitssucht kann er etwas abgewinnen. „Wenn ich viel arbeite, weil ich das mag, dann ist das doch gut“, meint er. Birgit läßt ihn nicht ausreden: „Nee, das stimmt nicht!“ ruft sie, „die Arbeitssüchtigen vernachlässigen doch ihre Familien.“

Kathrin will einmal mehr das letzte Wort haben. Schnodderig behauptet sie: „Bei mir ist eh alles Sucht!“ Doch als Verena sie auf's Rauchen anspricht, will sie davon nichts wissen: „Rauchen ist keine Sucht. Rauchen ist eine Leidenschaft – und Begierde.“ Und außerdem kann sie ja jederzeit aufhören, wenn sie will. Sie will nur nicht.

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