Was Griechenland von Polen lernen kann: "Das Land stürzt in eine Depression"
Die Mehrheit der Griechen macht das Ausland für die Probleme des Landes verantwortlich. Nötig wären heimische Reformbewegungen, meint der Politologe Helmut Wiesenthal.
taz: Herr Wiesenthal, um zu verstehen, warum Griechenland heute bankrott ist, blicken Sie nach Osteuropa, etwa nach Polen. Was bringt der Vergleich dieser doch sehr unterschiedlichen Länder?
Helmut Wiesenthal: Anders als Griechenland hat Polen den Übergang von einer etatistisch geprägten Wirtschaft zur Marktwirtschaft gemeistert. Ein Vergleich der beiden Transformationsfälle zeigt, welche Faktoren nötig sind, damit der Übergang von einem Gesellschaftssystem in ein anderes erfolgreich bewältigt werden kann.
Woran sind die Hellenen gescheitert?
Zunächst einmal haben sich die Demokratie- und Konsumwünsche der Griechen am internationalen Maßstab orientiert. Aber niemand hat sich ernsthaft darum gekümmert, ob die eigenen Institutionen diese Ansprüche auf Dauer gewährleisten können. Zweitens fehlen in Griechenland - anders als in Polen oder in der DDR - einheimische Reformbewegungen, die Schluss machen wollten mit dem alten System und erklären würden, was getan werden muss und wohin das Ganze führen soll. Stattdessen sind es äußere Kräfte, sprich die EU und der IWF, die Reformen verlangen.
Warum gab es in Griechenland keine Reformbewegungen? Die meisten wussten doch, dass der Staat nicht funktioniert?
ist Sozialwissenschaftler. Von 1994 bis 2003 war er Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität in Berlin. Seine letzte Buchpublikation: "Gesellschaftssteuerung und gesellschaftliche Selbststeuerung", Wiesbaden 2006.
Der allgemeine Zustand war ja recht komfortabel. Die Parteien konkurrierten darum, wie sie der Bevölkerung Gutes tun könnten, unter anderem daher rührt die enorme Staatsverschuldung. Und weder die Alten noch die Jungen haben eine Verantwortung für den Staat entwickelt, der war vor allem eine Kuh, die man melken kann. Das hängt natürlich auch mit negativen Erfahrungen unter der Militärdiktatur zusammen. Auf diese Gemengelage haben die Parteien mit einer radikalen Klientelpolitik reagiert. Einzelne Politiker konnten sich durchaus einbilden, nicht nur ihrer Klientel etwas Gutes getan zu haben. Ein korrupt-klientelistisches System kann von den Akteuren sehr wohl als gemeinwohlförderlich angesehen werden. Menschen sind ja nicht gezwungen, sich ein konsistentes Weltbild zuzulegen.
Welche anderen Faktoren haben noch dazu beigetragen, dass Polen heute ein stabiles EU-Mitglied ist?
Wichtig war in Polen auch, dass die erheblichen sozialen und materiellen Kosten des Systemwechsels realistischerweise dem alten Gesellschaftssystem angelastet wurden. In Griechenland dagegen hält die Mehrheit ausländische Akteure an den Problemen und der Demütigung des Landes für schuldig.
Bedeutet die in Griechenland gängige Schuldzuschreibung an die EU und den IWF, dass sich die Reformer auch in Zukunft nicht durchsetzen werden?
Ja. Deshalb warne ich auch vor zu viel Optimismus. Meiner Ansicht nach steht Griechenland vor einer längeren Phase innenpolitischer Konflikte. Das Land ist dabei, in eine tiefe Depression zu stürzen. Letztlich auch die Politiker. Kurzfristig, also bis zu den nächsten Wahlen, können sie keine positive Entwicklung in Aussicht stellen.
Gibt das den Rechten Auftrieb?
Extremistische Positionen können erheblich gewinnen. Auch dafür sollte man im Ausland Verständnis aufbringen, weil Griechenlands Reformprozess unter vielen negativen Vorzeichen steht. Zwar war der Leidensdruck in Griechenland nicht so hoch wie seinerzeit in Polen oder Bulgarien, wo nach dem Systemwechsel erst mal eine tiefe Krise einsetzte. Allerdings profitierten die radikalen Veränderungen in den postsozialistischen Ländern auch von Resten der früheren Staatsgläubigkeit, der Schwäche der Gewerkschaften und dem Glauben, dass die Demokratie für wirtschaftliche Prosperität sorgt. Dadurch und mit ausländischer Hilfe gelang es, den doch sehr schwierigen Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft und schließlich zur EU-Mitgliedschaft hinzubekommen.
Falsche Vorstellungen vom Kapitalismus sind nötig, um den Wechsel zur effektiven Marktwirtschaft zu erleichtern?
Zumindest helfen sie, die sozialen Härten, die mit jeder Transition einhergehen, zu überstehen, ohne dass notwendige Reformen von ungeduldigen Wählern blockiert werden. In Griechenland, das ja Demokratie und Marktwirtschaft bereits kennt, melden sich jetzt stattdessen die Interessenvertretungen der Verlierer massiv zu Wort. Das ist ein Handicap für die Reformer.
Wer in Griechenland wird den Wiederaufbau stemmen?
Das würde ich auch gerne wissen. In Polen oder auch der damaligen Tschechoslowakei konnten jüngere Leute, die die Entwicklung halbwegs überblickten, sich ausrechnen, dass die Phase der erhöhten Erwerbslosigkeit und der hohen Inflationsraten vorübergeht, dass es sich um Übergangsprobleme handelt. Immerhin musste ja die gesamte Wirtschaft umstrukturiert werden. Den Griechen hingegen ging es über die letzten zehn bis 15 Jahre ziemlich gut, sodass sie die neue Situation als abrupte und anhaltende Verschlechterung erleben.
Könnten Eurobonds die schlechte Phase abkürzen?
Ich sympathisiere mit starken Instrumenten der Solidarität. Allerdings wird bei der Option, Griechenland auf diesem Weg wieder billige Kredite zu verschaffen, noch nicht deutlich, wie dann genügend Anreize sichergestellt werden können, dass die Schuldnerländer mit den längst überfälligen Reformen fortfahren.
Für die aufgeschlossenen Leute bleibt also nur die Migration?
Ich denke schon. Jüngere Leute nutzen mit großer Selbstverständlichkeit die Vorteile der Reise- und Arbeitsfreiheit in der Europäischen Union. Und das Gute ist, dass sie dank der einfachen und billigen Verkehrs- und Kommunikationsmittel trotz Migration den Kontakt zur Heimat nicht verlieren. Die meisten werden also später wieder zurückkehren. Und das Wissen und Selbstbewusstsein, das sie dann im Ausland gewonnen haben, kommt auch dem Heimatland wieder zugute.
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