Warum man Wulff jetzt in Ruhe lassen kann: Erst steinigen, dann Streckbank
Die deutsche Presse hat noch immer nicht genug vom lustigen Zurücktreten eines Provinzpolitikers. Nun muss sie auf die Journalisten-Bahncard verzichten.
![](https://taz.de/picture/224231/14/0237_04.jpg)
Für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: Christian Wulff ist zurückgetreten vom Amt des Bundespräsidenten. Die Diskussionen über einen Zapfenstreich, über seine Rente und darüber, dass seine Schwiegermutter ihm das Geld für den Urlaub irgendwo in der deutschen Provinz in bar geschenkt hat oder nicht, betreffen einen Ehemaligen. Vorgebliches Ziel dieser Kampagnen sind natürlich „Ehre“ und „Würde“, „Sorge“ um das Ansehen des Amtes des Bundespräsidenten.
Nachdem es der deutschen Weltpresse nicht gelungen war, Wulff gleich im ersten Anlauf zurückzutreten, klappte es dann immerhin im zweiten Anlauf. Aber um das zu schaffen, musste man jedem Einwohner von Großburgwedel einen Journalisten zur Seite stellen. Die böse Generalin Journaille schickte ihre Truppen in Kompaniestärke nach Niedersachsen, irgendeine Beute musste gemacht werden. Mit geschenkten Kulis und Werbetaschen vom letzten Event fahren sie mit Journalistenrabatt ins Feld und machen sich auf die Suche nach Anlässen, empört zu sein.
So werden in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren noch weitere Enthüllungen zu befürchten sein: Wulff bekam mal einen Zahnstocher „geborgt“ von einem, dessen Bruder jemanden kennt, der in Brasilien Regenwälder abholzt. Bei den Angeboten für die Regenrinne seines Hauses hat er sich gnadenlos für den billigsten Anbieter entschieden, obwohl der unverzinkte Schrauben verbauen wollte, und hallo!, da muss doch wohl irgendwas faul sein an der Sache. Und so einer will jetzt einen „Zapfenstreich“ und einen „Ehrensold“ und womöglich noch irgendwas mit einem hundert Jahre alten Namen. Das kann doch nicht wahr sein! Das müssen wir doch verhindern!
Wenn uns etwas nichts angeht, dann lässt uns das kalt. Fasziniert beobachten wir das Paarungsverhalten von Nasenfröschen, ungewöhnlich, aber es hat nichts mit uns zu tun. Wir wundern uns über den Musikgeschmack von jungen und alten Leuten, irgendwie schrill, aber nichts, das uns aufregt.
Hände bis zum Ellenbogen in die Keksdose
Aber wenn eine Angelegenheit mit so viel Energie und so viel Emotion betrieben und verfolgt wird, dann liegt es doch nahe, dass hier eigene Gefühle berührt wurden. Schnäppchen sind in Deutschland so beliebt, dass man sie mitnimmt, ganz egal, wie viel sie kosten. Die Werbesprüche der Elektronikmärkte „Geiz ist geil“ und „Ich bin doch nicht blöd“ bringen das Gefühl auf den Punkt, das bei den besser Situierten mit „1000 ganz legalen Steuertricks“ beschrieben wird. Es ist toll, kleine Schweinereien zu begehen, Vorteile mitzunehmen, irgendwas günstig zu holen. Im ersten Satz wird der Markenname des neuen Mantels erwähnt, im zweiten, wie billig der war.
Wir alle haben unsere Hände bis zum Ellenbogen in die Keksdose geschoben und lassen sie dort mit einem verschämten Blick auf die Tür herumwandern. Hauptsache, die Mama kommt nicht gleich in die Küche herein, dann wird es peinlich. Aber solange es geht, ist alles erlaubt, was die Idioten vergessen haben, uns zu verbieten. Es gibt wohl kaum jemanden, der einen vergleichbaren Journalistensturm wie Wulff mit guter Figur überleben könnte. Unglaublich geschickt macht es die Bahn, dieses bigott aufgeladene Klima dafür zu nutzen, ihren ungeliebten Journalistenrabatt abzuschaffen.
Der Provinzpolitiker Wulff hat ein Amt in die Hand gelegt bekommen, an dem er sich vorhersehbar verhoben hat. Im Gegensatz zu vielen, die nun über ihn berichten, muss er nun für seine Verfehlungen büßen. Aber warum muss ein gesteinigter Mann noch auf die Streckbank gelegt werden?
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