cannescannes: Warum derzeit in Cannes ein russisches Restaurant vermisst wird
Wer trinkt, wird wissen
Nach acht Festivaltagen und um die vierzig Filmen kommt es vor, dass die Vorstellung nach der Vorstellung weitergeht. Natürlich ist es kein Zufall, dass man mit ein paar Kollegen nach den dampfenden Wan Tans und Entengerichten in Tsai Ming-liangs Film „Wie viel Uhr ist es?“ wie von Zauberhand geführt in einem kleinen vietnamesischen Restaurant landet. Die lokalpatriotischen Schweizer Bekannten am Tisch vertieften sich ob der asiatischen Küche schnell in ein Gespräch über Appenzeller Hundswurst.
In Tsai Ming-liangs Film dient das Essen einer etwas übertriebenen Form der Trauerarbeit. Um die Seele ihres gerade verstorbenen Mannes wieder aus dem Jenseits zu locken, drapiert seine Witwe jeden Abend wunderbare Gerichte und Räucherstäbchen vor einem buddhistischen Altar.
Trotzdem ein großer Teil der umliegenden Luxusvillen von Russen gekauft wurde, deren Frauen fröhlich die Rue d'Antibes rauf und runter shoppen, gibt es in Cannes noch kein russisches Restaurant. Sonst hätte man mit eisgekühltem Vodka das großartige Trinkduell in Jacques Rivettes Wettbewerbsfilm „Va savoir“ nachspielen können: Ein frustrierter Akademiker (Dissertation „Heidegger, der Eifersüchtige“) und ein italienischer Schauspieler wetten, wer eine Flasche Wodka zuerst leert, natürlich geht es um die Frau des Lebens.
In „Va savoir“ wird Paris zum Ort der Bücher und geheimen Bibliotheken, zum Aufführungsort eines filmischen Theaterstückes, dessen Figuren die verschiedensten Zugänge zur Literatur verkörpern: Inszenierung und Schauspielerei, Leselust und Bibliophilie, Wissenschaft und Banausentum. Wieder spielt Rivette mit der Repräsentation in der Repräsentation. Während eine italienische Theatertruppe in Paris gastiert, begibt sich ihr Regisseur auf die Suche nach einem verschollenen Goldoni-Stück, weitere Personen tauchen mit mysteriösen Geschichten auf, und der Ton wird unmerklich boulevardesker: Die Hauptdarstellerin der Aufführung begegnet ihrer alten Liebe, ein kostbarer Ring wird gestohlen, Türen knallen und allerlei Nebenfiguren investieren libidinöse Energien. Es ist ein Film, in dem einem das Herz aufgeht, weil Rivette eine ganze Stadt zur Bühne für seine sagenhaft schlaksige Hauptdarstellerin Jeanne Balibar macht und dabei mit größterLeichtigkeit erotisch aufgeladene Intrigen mit den letzten Fragen der Literatur verbindet.
Ein weiterer französischer Wettbewerb, der hier vor zwei Tagen eher unterging, macht nach seinem Kinostart nun doch von sich reden. Roberto Succo, einer der wenigen Serienkiller, deren sich das europäische Festland einigermaßen brüsten kann, wurde ja schon im Theater verewigt. Cédric Kahn hat nun einen tatortartigen Kinofilm über den jungen Italiener gedreht, der zu Hause seine Eltern erschlug und im Frankreich der 80er-Jahre wahllos Menschen misshandelte und ermordete. Dass ein so böser Mensch Hauptfigur eines Films sein darf, hat die französische Polizei derart empört, dass sie auf dem roten Teppich vor dem Festivalpalast Flugblätter verteilte: „Wie kann man im Namen der künstlerischen Freiheit einen Kriminellen verherrlichen?“ Auf Bitten der Bürgermeister ist „Roberto Succo“ in einigen südfranzösischen Städten bereits aus den Kinos verschwunden. KATJA NICODEMUS
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