Warum Missbrauch oft unbemerkt bleibt: Privatsphäre statt Gardinenspionage
Ein Mann hält seine Tochter mehr als 20 Jahre lang gefangen, und keiner hat es bemerkt. Kann das denn sein? Klar. Verbrechen in der Nachbarschaft sind leider immer möglich.
Es war mal wieder eine der Nachrichten, die in ihrem unendlichen, mehrere Generationen einer Familie überspannenden Leid schockieren: Der 73-jährige Josef F. hielt seine Tochter Elisabeth 24 Jahre lang im Keller seines Hauses gefangen und missbrauchte sie sexuell. Von den sieben in dieser Gefangenschaft gezeugten Kindern mussten drei mit ihrer Mutter in dem Verlies leben, sahen niemals das Tageslicht. Drei der Kinder kamen bei den Großeltern als angebliche Pflegekinder unter und eines, das kurz nach der Geburt starb, verbrannte der Österreicher im Ofen des Hauses. Nur zufällig, als eines der Kellerkinder dringend in die Klinik gebracht werden musste, stürzte das Kartenhaus dieser abscheulichen Lügen ein. Nicht bei einer Psychosekte war die Tochter gelandet, wie der Vater behauptete, der sogar eine Vermisstenanzeige aufgegeben hatte, sondern im heimischen Keller. Die Pflegekinder, die angeblich von dieser als Rabenmutter geltenden Frau vor die Tür gelegt wurden, wurden im eigenen Haus geboren.
Kurz nachdem die Nachricht der Befreiung dieser Gefangenen verbreitet war, säumten Übertragungswagen die Straße des Dorfes Amstetten, Nachbarn wurden befragt. Die schüttelten ungläubig den Kopf, und immer wieder kam die Frage auf, wieso auch in diesem Fall, ähnlich dem von Natascha Kampusch, niemand etwas bemerkt hat. Kann es sein, dass solch ein Verbrechen über solch eine lange Zeit hinweg geschieht und niemand etwas mitbekommt?
Es kann sein! Es wird in dieser noch andauernden Menschheitsgeschichte immer wieder geschehen, dass der eine Nachbar nicht weiß, was der andere treibt - vor allem wenn es sich um solch extreme Einzeltaten jenseits dessen handelt, was man sich für gewöhnlich so vorstellen kann. Zwar gibt es immer wieder allgemein sichtbare Puzzleteile, die beim Zusammensetzen ein Bild ergäben, aber genau dieses Zusammensetzen ist doch eine Leistung, die im Alltag nicht geleistet wird. Nicht aus Faulheit oder Gleichgültigkeit, sondern weil das bewusste und tatsächliche Hineinschauen in das Leben der anderen als unlauter gilt. Nicht nur in der Großstadt, auch auf dem Dorf.
In der allgemeinen Angst vor dem Schnüffelstaat zieht man sich selbst ins Private zurück und gesteht es anderen auch zu, privat zu sein. Es muss als Fortschritt gewertet werden, dass der Interessenschwerpunkt nicht mehr auf dem liegt, was der Nachbar treibt, sondern auf dem, was man selbst tut. Dieses Verhalten entschuldigt nicht, aber macht die Entwicklung verständlich. Man muss doch davon ausgehen, dass im Fall der als vermisst gemeldeten Elisabeth das Zusammensetzen der Puzzleteile zunächst der Polizei überlassen wird. Umso schwerer also deren Versagen. Das Umfeld, das nun in seiner Ahnungslosigkeit vorgeführt wird, aber ist teilweise schuldlos. Zu einem Verbrechen, wie es in Amstetten geschah, gehört fast immer eine perfide Überdeckungsstrategie, sodass es schon kriminalistischen Spürsinn erfordert, es aufzudecken.
Wer heute etwas über seine Nachbarn erfahren will, schaut nicht mehr heimlich in ihre gut verhängten Fenster, sondern googelt sie. Lagepläne von selbst gezimmerten Verliesen sind dort eher selten zu finden. Wessen Kind schon einmal hinter dem geöffneten Fenster zum Hof einen Wutanfall bekommen hat, wird feststellen, dass auch die schlimmsten Laute als normal gelten und niemand nachfragen wird, ob alles in Ordnung sei.
Die Feststellung, dass so etwas nun in unser aller Nachbarn Keller geschehen kann, ist weder ein Aufschrei noch ein zynisches Gutheißen der Zustände. Es ist die Feststellung einer Entwicklung, in der man sich vom Staat so beschnüffelt fühlt, dass man selbst nicht unter die Detektive gehen möchte. Die Umgebung ist nun nicht in der kriminalistischen Arbeit gefragt, sondern in der Aufarbeitung. Die Opfer müssen aufgenommen und umsorgt werden.
Solange die Familie und die Privatsphäre eines Menschen als geschützt gelten - ein Wert, den es zu erhalten gilt -, wird sich hinter der Fassade in seltenen Fällen unsagbares Leid verstecken. Als Beteiligter des Umfelds darf man dies nicht ausschließen, ein bigottes Entsetzen lindert es nicht. Unberührt zu bleiben auch nicht. Verbrechen, und das in Österreich an einer viel befahrenen Straße geschehene auch, passieren heimlich. Das wird auch in Zukunft so bleiben. So sollte man darauf achten, was in der unmittelbaren Umgebung geschieht, nun aber mit der Bespitzelung der Nachbarn zu beginnen ist sinnlos. Aufmerksam sollte man bleiben, neugierig darf man sein, Spionage im eigenen Viertel aber muss nicht sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin