Warten auf den nächsten Parteitag

■ Hat die Staatengemeinschaft in Bosnien kapituliert? Endet auf dem Balkan die Chance einer europäischen Sicherheitspolitik? Muß die Zivilbevölkerung jetzt mit militärischen Mitteln geschützt werden?...

taz: An der Frage eines Einsatzes deutscher Tornado-Flugzeuge in Bosnien hat sich neuerlich der Grundsatzstreit um deutsche Militäreinsätze entzündet. Mit dem befristeten Waffenstillstand in Bosnien ist die innerdeutsche Debatte zwar wieder abgeflaut, doch die Frage einer militärischen Beteiligung deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien oder in anderen Konflikten ist damit kaum von der politischen Tagesordnung verschwunden. Sollen deutsche Flugzeuge zur Sicherung von Hilfslieferungen oder zum wirklichen Schutz der Zivilbevölkerung vor Artillerieangriffen in den sogenannten Schutzzonen in Bosnien eingesetzt werden?

Joschka Fischer: Es geht nicht nur um die Tornados, sondern um die Frage, ob man zur Durchsetzung von UN-Zielen eine Beteiligung deutscher Soldaten im ehemaligen Jugoslawien befürwortet. Dabei muß man abwägen, ob der Einsatz deutscher Soldaten in Bosnien zu einer Verbesserung der Situation beitragen kann, oder ob er nicht das Gegenteil bewirken würde. Ich bin der festen Überzeugung, daß deutsche Soldaten dort, wo im Zweiten Weltkrieg die Hitler-Soldateska gewütet hat, den Konflikt anheizen und nicht deeskalieren würden. Ich befürchte, wir bekämen eine ganz neue Konfliktdimension und die serbischen Kriegsherren genau den Propagandaerfolg, den sie suchen. Deshalb ein klares Nein.

Dany Cohn-Bendit: Ich sage ein klares Ja zur Durchsetzung humanitärer Hilfe, auch mit militärischer Unterstützung.

Fischer: Das hat der letzte grüne Parteitag auch so gesehen.

Cohn-Bendit: Ach ja? Ich halte fest, der Parteitag der Grünen ist der Meinung, zur Durchsetzung humanitärer Hilfe und zur Sicherung der Schutzzonen in Bosnien ist militärische Intervention nötig.

Fischer: Eben nicht Intervention, sondern Hilfe und Absicherung. Immerhin hat sich der grüne Parteitag klar für den Unprofor-Einsatz ausgesprochen, der ja kein Einsatz des Internationalen Roten Kreuzes ist, sondern eben einer von Soldaten.

Aber der Unprofor-Einsatz ist aus den bekannten Gründen gerade nicht in der Lage, Schutz in den Schutzzonen zu garantieren oder Hilfslieferungen zu den Eingeschlossenen zu bringen. Wegen dieser Defizite wird seit Jahren die Frage debattiert, ob die UNO- Ziele nicht doch auch militärisch durchgesetzt werden müssen.

Cohn-Bendit: Wenn die UNO bestimmte humanitäre Ziele zum Schutz der Zivilbevölkerung formuliert, muß sie diese auch durchsetzen. Ansonsten gibt sie dem Aggressor das Signal, daß Aggression sich lohnt. Wenn man die militärische Durchsetzung der von der UNO befürworteten Ziele will, wird man um die Frage der deutschen Beteiligung nicht herumkommen. Meine Frage lautet: Wie lange wird es noch dauern, bis man die Bundesrepublik Deutschland als eine normale Republik mit normalen Verpflichtungen akzeptieren wird? Wenn irgendein Grüner wirklich einmal außenpolitische Verantwortung trägt, wird er merken, daß die Sonderrolle in Paris, London und Warschau nicht mehr akzeptiert wird.

Fischer: Diese Erwartung wird nur so lange existieren, wie die Deutschen gerade nicht in der Weise auftreten, wie du, Dany, es von ihnen erwartest. Wenn sich die Deutschen erst einmal militärisch einmischen, wird es völlig andere Reaktionen geben. Aber mein Problem ist ein anderes. All diese Einsätze und die Debatten darum werden von der Bundesregierung als Türöffner benutzt. Das vereinigte Deutschland soll in seinen außenpolitischen Optionen voll handlungsfähig gemacht werden. Das ist nicht meine Position. Ich wäre allerdings schon froh, wenn die, die das wollen, sich wenigstens nicht andauernd hinter der Humanität verstecken würden, um eben diese Position durchzusetzen.

Demnach würde die Bundesregierung humanitäre Einsätze propagieren, um auf diesem Wege endlich die volle nationale, auch militärische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik herzustellen?

Cohn-Bendit: Warum gibt es diese Skepsis nur gegen die Deutschen? Man muß verhindern, daß irgendein Land alleine agiert. Deswegen bin ich für eine europäisch strukturierte Außen- und Sicherheitspolitik. Es wird dann eine irgendwie geartete europäische Armee geben, in der Deutschland das, was europäisch beschlossen wird, mittragen muß.

Fischer: Deutschland hat eine historisch bedingte Sonderrolle, ob einem das gefällt oder nicht. Nehmen wir den Jugoslawienkonflikt. Der eigentliche politische Urgrund des Dilemmas ist, daß es niemals diese europäische Sicherheits- und Außenpolitik gegeben hat. Der Konfliktraum, innerhalb dessen die serbische Aggression so erfolgreich zum Tragen kam, wurde doch erst durch die Selbstblockade der Europäer eröffnet. Da nützen wohlmeinende Hinweise auf eine gemeinsame europäische Politik überhaupt nichts. Der Bosnienkonflikt läuft auf eine Zertrümmerung von europäischer Integration hinaus. Unter dem Deckmantel supranationaler Organisationen wie Nato, WEU, EU findet derzeit der Rückfall in das 19. Jahrhundert statt. Den gemeinsamen Willen des Westens, den gibt es nicht.

Cohn-Bendit: Ich behaupte nicht, es gäbe eine gemeinsame Position des Westens. Aber was es gibt, ist eine Phobie gegenüber den Deutschen. Die wird nach allen Seiten hin instrumentalisiert. Sowohl die französischen Maastricht-Befürworter wie die Gegner bedienen sich dieser Phobie. Die einen sagen, wir müssen die Deutschen einbinden, die anderen behaupten, Maastricht sei für die Deutschen der Schlüssel zur ökonomischen Hegemonie. Gegen diesen Popanz müssen wir die Phalanx sein für eine rationale Normalisierung der Deutschen nach innen wie nach außen. So geht es nicht weiter und ich finde, daß wir Grünen da eine Verantwortung haben und auch ehrlich sein müssen. Diese Demokratie ist nicht mehr der Staat von 1945.

Fischer: Ich stimme dir da zu.

Das klingt nicht unbedingt nach deutscher Großmachtsehnsucht. Dennoch, die Frage eines deutschen Engagements im ehemaligen Jugoslawien, auch zur Durchsetzung eng umgrenzter, humanitärer Ziele, bleibt umstritten. Breite Übereinstimmung besteht, daß es für den Konflikt selbst keine militärische Lösung gibt. Gibt es andererseits noch eine reale Chance auf einen Frieden durch Verhandlungen? Die müßte es ja geben, wenn man die militärische Unterstützung auch nur von Hilfslieferungen – mit oder ohne deutsche Beteiligung – mit dem Argument ablehnt, das führe nur zur weiteren Eskalation.

Cohn-Bendit: Überall wird behauptet, daß in Bosnien eine militärische Lösung unmöglich sei – das ist mir zu einfach dahingesagt. Es gibt nämlich eine, die serbische. Zu einer wirklichen Verhandlung mit den Serben würde es nur bei einem Gleichgewicht der Kräfte kommen. Andernfalls wird es nur die Sanktionierung militärischer Gebietsgewinne geben.

Fischer: Du willst auch mit militärischen Mitteln die Chance für eine Verhandlungslösung herbeiführen, weil andernfalls nur ein kapitulatorischer Friede hinzubekommen ist, also das Ende der ersten Runde in einem dreißigjährigen Krieg, nicht das Ende des Krieges selbst. Über dieses mutmaßliche Ergebnis müssen wir nicht streiten. Worüber wir aber streiten müssen, ist, daß du die Risiken deiner Position nicht wahrnehmen willst. Was ich im Moment sehe, sind massive Bestrebungen in Deutschland für größeren militärischen Handlungsspielraum und gleichzeitig objektive Tendenzen einer europäischen Desintegration. Beides zusammen könnte dieses große Deutschland in der Mitte wieder dahin führen, eine eigene, hochriskante Rolle zu spielen. Deshalb darf man jetzt keine historisch gewachsenen Zäune niederreißen. Vielleicht kommt eines Tages die Situation, in der sie überstiegen werden, aber man darf sie in der jetzigen Situation nicht einfach umreißen.

Das ist mein großes Problem, Dany, wenn ich sehe, wie die Bundesregierung den Bundestag an der Nase, an der humanitären Nase, in den Bosnienkrieg führen will. Da geben die Militärs den Takt vor.

Cohn-Bendit: Wenn die Militärs drei Jahre lang behaupten, militärisch ginge gar nichts, dann wurden sie zustimmend zitiert. Jetzt haben sie wieder die richtige Rolle, die des Bösen. Ich vertrete nicht die Position der Bundesregierung. Ich sehe aber, daß auch die Grünen weder im Balkankonflikt, noch generell in der Außenpolitik eine innovative Rolle spielen wollen. Wir haben keinen strategischen Ansatz, der sagt, weil wir kein Deutschland wollen, das zwischen Ost und West, Nord und Süd floatet, müssen wir die Frage einer Außen- und Sicherheitspolitik offensiv vertreten. Wir agieren in dieser Frage wie in der Asyldebatte, und wir werden auch diesmal wieder aufrecht verlieren.

Fischer: Jein. Was ich dir zu bedenken gebe: Beginnend mit der humanitären Intervention wird auch ein machtpolitisch erstarkendes Deutschland nicht zu einem Motor der europäischen Integration, sondern zu einem rückwärtsgewandten, auseinandertreibenden Element. Zudem muß man manchmal aufrecht verlieren.

Cohn-Bendit: Warum bist du so kleinmütig? Du willst doch an die Regierung, um dieses Deutschland nach Europa zu führen.

Fischer: Ich bin der festen Überzeugung, daß die Öffnung in Richtung der militärpolitischen Komponente die Rückkehr der Macht Deutschland – nicht der Macht Europa – auf die Bühne der Weltpolitik bedeuten wird, und das ist sehr riskant. Deswegen bin ich skeptisch, ob die Kohlsche Rechnung aufgeht, und ob sich nicht doch am Ende die deutsche Einheit – sie war unvermeidlich – als der entscheidende Blockadefaktor für die europäische Integration erweist. Deswegen gehöre ich zu denen, die bei allen Fragen militärischer Intervention auf der Bremse stehen. Es ist eminent wichtig, daß dieses Deutschland sich zurückhält, vor allem in der Frage militärisch gestützter Machtpolitik.

Gut, ohne Deutsche. Aber wie können denn die Forderungen der grünen Bosnien-Resolution durchgesetzt werden?

Fischer: Darüber muß die Partei diskutieren. Das werde ich ihr nicht abnehmen. Sie hat einen sehr weitgehenden Beschluß gefaßt, sie hat sich bewegt, und ich halte gar nichts davon, diesen Diskussionsprozeß jetzt durch Alles-oder- nichts-Argumente kaputtzumachen.

Das ist jetzt der Blick in die Partei. Wir hätten trotzdem gerne gewußt, ob Sie diese Forderungen stützen, und ob Sie die Mittel angeben können, die notwendig sind, diese Forderungen durchzusetzen?

Fischer: Wir haben uns klar für den Unprofor-Einsatz ausgesprochen, und über die Mittel werden diejenigen, die den Einsatz ausführen müssen, zu entscheiden haben.

Cohn-Bendit: Der gewählte Vorsitzende der Grünen, Trittin, hat in seiner Rede auf dem Wahlparteitag erklärt, wir stehen voll hinter dem Freiheitskampf des kurdischen Volkes. Ich frage: War es richtig, daß amerikanische Tornados den Flugraum über dem Nordirak sichern, damit die Kurden nicht mit Gas bombardiert werden? Ich will irgendwann einmal von der grünen Partei hören, ob wir das gut und richtig finden!

Fischer: Die Diskussion, wie sich eine pazifistische Partei in einer unfriedlichen Welt verhält, ist nicht einfach, weil sich dauernd ein Widerspruch auftut zwischen Überzeugungen und aktuellen Erfordernissen. Ich kann vieles von dem, was Dany vorbringt, verstehen, auch wenn ich glaube, er unterschätzt völlig die Risiken. Ich kann auch vieles von den Grundsatzpositionen der anderen Seite verstehen ...

Cohn-Bendit: ... Ich auch, wenn dieser Pazifismus unbeugsam ist. Aber wenn man sich einmal, etwa im Fall Nicaraguas oder El Salvadors, für den bewaffneten Kampf einsetzt, aber im Fall Bosniens plötzlich pazifistisch reagiert, da werde ich skeptisch, was die Instrumentalisierung der pazifistischen Grundsätze betrifft.

Fischer: In der Pazifismusfrage rührst du an das Ureigenste dieser Partei. Das muß man einfach sehen.

Nach der fast fünfzigjährigen deutschen Zurückhaltung ist auch die bundesdeutsche Gesellschaft eher pazifistisch gestimmt. In allen Umfragen jedenfalls haben die Interventionsgegner die Mehrheit.

Cohn-Bendit: Ich bin überzeugt, daß eine Demokratie nie freiwillig und mit Mehrheit für eine Intervention sein wird. Chamberlain und Daladier wurden 1938 als Volkshelden gefeiert. Die Amerikaner waren mehrheitlich gegen den Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Es gibt einen Egoismus zum Selbstschutz. Die Mehrheit sagt, wo meine Interessen nicht bedroht sind, muß alles versucht werden, damit wir nicht in Kriege hineingezogen werden. Das ist eine normale Reaktion.

Fischer: Und was sehen wir daran: Daß dieser Krieg auf dem Balkan nicht zum Frieden kommen kann, das liegt nicht an der Interventionsunwilligkeit der westlichen Gesellschaften, es liegt auch nicht nur an den regionalen Gegebenheiten, sondern es hängt zentral damit zusammen, daß die unterschiedlichen historischen Interessen in dieser Region wieder zum Tragen gekommen sind. Man kann das den Franzosen wie den Briten vorwerfen ...

Cohn-Bendit: ... Was ich den Briten und Franzosen vorwerfe, ist dasselbe, was du der Bundesregierung vorwirfst: daß sie nicht offen sagen, was ihre Interessen sind.

Fischer: Wenn uns ein konservativer Machtpolitiker, sagen wir aus Großbritannien, hier diskutieren hören würde, dann würde der sagen: „Ja, mein lieber Cohn-Bendit, mein lieber Fischer, die Lage ist eben nicht so, wie ihr sie euch erträumt. Es geht auf dem Balkan um die Wiederherstellung von Ordnung, und das ist eben nur schwer mit der Wahrung von Menschenrechten zu vereinbaren, zumindest dann, wenn die alte Ordnung vollständig zerbrochen ist. Man muß dann, auch wenn es unschön aussieht, auf eine ordnungsfähige Macht setzen. Nachdem Jugoslawien mit deutschem Druck in der Anerkennungsfrage zerbrochen ist, setzen wir auf die großserbische Lösung.“

Cohn-Bendit: Darf ich jetzt mal gegen deinen Konservativen argumentieren? Mein Neukonservativer sagt: „Die Welt, liebe Pazifisten, ist nicht so einfach, wie ihr sie euch vorstellt. Friedensappelle werden nicht reichen. Es gibt Grundprinzipien der Weltordnung, die von der Staatengemeinschaft um den Preis ihres Untergangs verteidigt werden müssen. Wenn von vornherein die Weltgemeinschaft keinen Zweifel daran gelassen hätte, daß sie die militärische Verletzung der Grenzen eines Staates nicht hinnimmt, hätten auch die Serben gewußt, daß sie mit Widerstand rechnen müssen. Indem wir aber zugelassen haben, daß eine Grenze so überrannt werden kann, wie das die Serben später taten, haben wir den Grundzug der Weltorganisation in Frage gestellt.“

Was bedeutet das Scheitern der Konflikteindämmung im ehemaligen Jugoslawien für den künftigen Anspruch der Staatengemeinschaft, friedliches Zusammenleben, notfalls auch mit Zwangsmitteln, zu garantieren?

Fischer: Solange es keine einhellige Position der wichtigsten Staaten gibt, solange werden die regionalen Kriegsherren immer im Vorteil sein. Ich halte nichts vom Beschimpfen der UNO. Im Bosnienkrieg ist der Keim des Zerfalls des Westens angelegt.

Cohn-Bendit: Die Analyse von Joschka ist in einem Punkt richtig: Wir sind am Scheideweg der europäischen Integration. Aber ich wünsche mir, daß die Grünen das nicht einfach nur feststellen. Ich wünsche mir, daß die Grünen neben ihrer Strategie der Entmilitarisierung auch eine Strategie hin zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, die neben den zivilen auch militärische Interventionsmöglichkeiten beinhaltet. Die Verantwortung für europäische Konflikte muß auf Europa übergehen. Und wenn wir dann Europa sagen, dann meint das natürlich auch die Deutschen.

Fischer: Richtig. Wenn es eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik gäbe, würde es sich nicht mehr um nationalstaatliche Entscheidungen handeln. Nur, gegenwärtig haben wir es genau mit dem Gegenteil zu tun. Es geht um die Durchsetzung der Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens zwischen Völkern und in Völkern und damit um die Verabschiedung von klassischer, nationalstaatlich gestützter Militärpolitik, die auf Macht und das Recht des Stärkeren setzt. Wenn man heute gewaltfreie und friedliche Verhältnisse will, muß man die Diskussion auf dieser Grundlage führen. Aber die Dinge kreuzen sich: Auf der einen Seite haben wir es mit einem Konflikt zu tun, bei dem sich im Interesse eines friedlichen Zusammenlebens zwischen den Völkern die Interventionsfrage stellt; aber wir sehen auch, daß sich genau an diesem Konflikt die Renationalisierung von Außenpolitik in Europa entwickelt.

Cohn-Bendit: Während des Vietnamkrieges wollten wir, daß die Bürger aufhören zu gaffen, wir wollten ihr Engagement: „Bürger runter vom Balkon, pimpert mit dem Vietcong.“ Heute ist uns die Passivität und der pazifistische Mainstream in der Gesellschaft ganz angenehm.

Fischer: Also, ich bekomme den Mainstream ganz anders mit! Wenn man erlebt, wie mit fiktionalen Situationen und Anfragen Politik gemacht wird, wie die rechtlichen und historischen Barrieren abgeräumt werden zugunsten einer völligen Optionsfreiheit der deutschen Außenpolitik mit militärischen Mitteln ... Ich sehe keinen pazifistischen Mainstream, ich sehe das Gegenteil.

Cohn-Bendit: Joschka, ich glaube, du benutzt die trickreiche Position der Bundesregierung, um bestimmte Fragen nicht beantworten zu müssen. Die Frage, die ich klären will in Frankreich, in England, in Deutschland, heißt: Müssen die serbischen Raketenstellungen abgeschossen werden, damit die Hilfe nach Bihać kommt? Ja oder nein. Und da bin ich der Meinung: Wenn man ja zu den amerikanischen Tornados sagt, dann muß man auch ja zu den deutschen Tornados sagen.

Fischer: Eine gemeinsame Position der Europäer zu dieser Frage kann man vergessen. Und ich befürchte, daß es in Deutschland beim nächsten Konflikt dieser Art heißen wird: So etwas wie in Bosnien passiert uns nicht noch einmal. Nach der Devise: Wenn es keine europäische Politik gibt, dann brauchen wir eben eine eigene. Deshalb bin ich gegen deutsche Tornados über Bosnien, weil sie einen weiteren Schritt in diese Richtung bedeuten.

Cohn-Bendit: Ach Quatsch! Ich bin der festen Überzeugung, daß es keine politische Elite in Deutschland gibt, keine relevante politische Kraft, auch in der Armee nicht, die irgendeinen Einsatz deutscher Soldaten außerhalb von UNO, Nato oder WEU will.

Fischer: Aber bleibt das so?

Cohn-Bendit: Das bleibt so!

Gibt es die Indizien, daß es nicht so bleiben wird?

Fischer: Mein Indiz dafür ist, daß es diese integrierte Außen- und Sicherheitspolitik weder gibt noch geben wird. Ich sehe, daß der Karren in die Gegenrichtung fährt.

Cohn-Bendit: Dank Adenauer und der CDU und gegen den Widerstand vieler Pazifisten ist die Bundesrepublik heute viel zu weit in internationale Organisationen eingebunden.

Fischer: Dany, das wird nicht so laufen, daß die Deutschen plötzlich ihren Austritt erklären! Erst werden sich die Akzente langsam verschieben und dann wird es eine Situation geben, in der die unter internationalen Vorzeichen entwickelten Instrumente für nationale Interessen eingesetzt werden. Die Linken stehen dann dumm daneben und protestieren: So haben wir das aber nicht gemeint. Und dann wird der konservative Mainstream sagen: So war es aber gemeint.

Cohn-Bendit: Im Moment stehen wir dumm daneben und sagen: Die Vernichtung von Menschen, das ist auch nicht in unserem Sinne, aber es tut uns leid. Also, wer daneben steht und wer worüber entsetzt ist, das können wir uns gegenseitig vorhalten. Ich halte die Einschätzung, daß momentan eine gemeinsame europäische Politik schwierig ist, für richtig. Nur, was ich nicht sehe: Wofür steht die grüne Partei? Einerseits befürchtet sie eine Renationalisierung, andererseits verschwendet sie keinen Gedanken an eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Im Gegenteil, statt gegen die „Großmacht Deutschland“ wird jetzt gegen die „Supermacht Europa“ gekämpft.

Fischer: Das sehe ich anders. Dieses ganze Spektakel um eine künftige Supermacht Europa halte ich für ziemlich daneben, schon allein, weil Europa aufgrund seiner gebrochenen internen Interessenslage nicht supermachttauglich ist in einem aggressiven Sinne.

Cohn-Bendit: Wunderbar, Joschka, darauf kann Außenpolitik basieren. Deshalb bin ich ja für eine gemeinsame europäische Politik. Ob die Situation so schwarz ist, wie du sie malst, oder etwas lockerer, wie ich sie sehe, das können wir hier nicht entscheiden. Was ich will, ist, daß die Grünen zu Europäern werden. Die Grünen sind bislang eher für den deutschen pazifistischen Sonderweg.

Ob eher die pessimistische Sicht von Joschka Fischer oder die optimistischere von Dany Cohn-Bendit zutrifft, das wäre schon wichtig zu klären. Nur von einer realistischen Beschreibung der gegenwärtigen Situation aus ließe sich eine politische Strategie entwickeln.

Cohn-Bendit: Man kann nicht ausschließen, daß Instrumente, die man für eine europäische Perspektive schafft, irgendwann einmal auch anders genutzt werden. Das ist eine Gefahr. Deshalb bin ich durchaus für eingrenzende Momente, etwa eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag für deutsche Einsätze. In der konkreten Frage könnten die Grünen auch sagen: Wir können aufgrund unserer Geschichte in Jugoslawien nicht intervenieren, aber es ist notwendig. Deshalb müssen es die anderen tun. Aber weil wir so auf Dauer nicht weiterargumentieren können, brauchen wir die gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik, wo es neben französischen und britischen auch deutsche Soldaten geben wird, und wo die Entscheidung eben keine nationale, sondern eine europäische sein wird; wenn das die Grünen sagen, wenn sie so ihre Bringschuld gegenüber der Geschichte leisten, dann bin ich einverstanden.

Fischer: Dann mußt du darum in der Partei kämpfen. Daß sich eine pazifistische Partei mit der Gewaltschwelle sehr schwer tut, ist klar. Aber die Partei hat mit ihrer Bosnien-Resolution und dem klaren Ja zum Unprofor-Einsatz einen erheblichen Schritt getan. Und auch auf dem Bonner Bosnien-Parteitag wurden ja Instrumente internationaler Konfliktprävention und -schlichtung befürwortet. Hätte man sich in Deutschland nach 89 frühzeitig auf die Formel geeinigt: Voll integriert tragen wir unseren vollen Anteil an den europäischen Lasten ...

Cohn-Bendit: ... Dann sagen wir das doch, als Partei.

Fischer: Ich bin nicht die Partei. Also, hätte man diese Formel propagiert: Voll integriert, ja, andernfalls müssen wir uns eine radikale Selbstbeschränkung auferlegen, dann hätte das auch als Motor einer weiteren Integration wirken können. Momentan sehe ich das genaue Gegenteil.

Was heißt das für die grüne Außen- und Sicherheitspolitik?

Fischer: Wir sind in Deutschland nicht gerade gesegnet mit einer pazifistischen Tradition. Die will ich nicht einfach einer neokommunistischen Partei überlassen, auch wenn das eher ein taktisches Argument sein mag. Jenseits aller Taktik lautet für mich die entscheidende Frage einer grünen Außen- und Sicherheitspolitik: Wie kann eine pazifistische und antinationalistische Partei eine Politik zur Verteidigung bedrohter Menschen und ihrer Rechte entwickeln, ohne dabei ihre gewaltfreien Grundsätze aufzugeben? Wenn man diese Debatte führt, kann das auch Rückwirkung auf das Mainstream- Denken der politischen Klasse haben.

Cohn-Bendit: Du hast eben argumentiert, wir seien in Deutschland nicht gesegnet mit einer Geschichte des Pazifismus. Ich würde sagen, wir sind in Europa gesegnet mit einer Geschichte des Appeasement. Die ganze europäische Geschichte ist bestimmt von Gesellschaften, die sich gegenüber Diktatoren aller Art zum Appeasement entschieden haben. Mit Recht sagen wir: Aufstehen, wenn Asylbewerber angegriffen werden. Aber diese Einstellung dürfen wir nicht an den Grenzen abgeben.

Fischer: Es müssen nicht-gewaltfähige Strukturen entwickelt werden, damit es nicht zu solchen Gewaltexzessen wie in Ex-Jugoslawien kommt. Wenn die Prävention versagt, dann stellt sich die Frage, an welchem Punkt auch Pazifisten Kompromisse eingehen, um eine Konfliktschlichtung zu ermöglichen. Aber eines ist für mich jedenfalls klar: Wo deutsche Soldaten im Zweiten Weltkrieg gewütet haben, darf es keine Einsätze geben...

Cohn-Bendit: ... Und weil die Deutschen einmal fast die ganze Welt zerstört haben ...

Fischer: ... ganz Europa ...

Heißt das, daß Deutsche, trotz des Ziels einer gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik, zur Konfliktschlichtung niemals einen Beitrag leisten können?

Fischer: Liebe Leute, redet doch nicht vom deutschen „Beitrag“, überlegt lieber mal, was es heißen würde, wenn deutsche Soldaten in Kampfhandlungen gegen Serben verwickelt würden! Dann hätten wir hier wirklich eine völlig andere Debatte.

Cohn-Bendit: Ach Quatsch, das glaub' ich nicht. Aber wir haben uns ja geeinigt. Deutsche Soldaten werden nur dann eingesetzt, wenn sie die Europafarben auf dem Helm tragen. Dann sind das Europäer deutscher Abstammung.

Fischer: Von einer europäisch integrierten Sicherheits- und Außenpolitik sind wir weiter entfernt denn je.

Cohn-Bendit: Was mich interessiert, ist, ob die Grünen das wollen.

Fischer: Das mußt du den nächsten Parteitag fragen.

Gäste: Matthias Geis

Andrea Seibel