Wann sich Gewerkschaften lohnen: Mit Herz und Hirn
Wann ist der richtige Zeitpunkt, in eine Gewerkschaft einzutreten? Und wann ist es günstiger, sich zu verabschieden? Über die Rolle rationalen Kalküls und seine Grenzen.
Wie kann man sich in der ökonomischen Krise verteidigen, möglichst im Kollektiv? Der nahe 1. Mai mit seinen immergleichen DGB-Kundgebungen legt eine Nutzenabwägung nahe. Ist es für Lohnabhängige von größerem Nutzen, in die Gewerkschaften einzutreten, als ihnen fernzubleiben? Eine individuelle Nutzen/Kosten-Kalkulation anzustellen, wie es die ökonomische Entscheidungstheorie ("rational choice") nahelegt, ist für die Verkäufer der Ware Arbeitskraft keineswegs abwegig. Denn längst sind die Zeiten vorbei, als die gewerkschaftliche Organisierung sich wie von selbst aus der Lebenssituation der ArbeiterInnen ergab. Individuelle rationale Kalküle in Bezug auf Organisierung sind heute der Ausdruck für die Vereinzelung und Fragmentierung des Arbeitsprozesses.
Was steht auf dem Spiel? Auf der Kostenseite der monatliche Mitgliedsbeitrag, bei Beschäftigten ein Prozent des Bruttolohns. Bei der Nutzenseite geht es um Erwartungskalküle. Wird die Gewerkschaft es schaffen, vermittels kollektiver Aktion das Einkommen zu erhöhen, wenigstens es zu verteidigen und meinen Arbeitsplatz zu sichern? Ein wichtiges Kalkül betrifft die Kampfkraft der jeweiligen Gewerkschaft. Sie muss stark genug sein, um zum Mittel des Streiks greifen zukönnen. Nach der neoklassischen Wirtschaftstheorie wären Streiks irrational, weil in ihrem Gefolge sich die zur Verfügung stehende Verteilungsmasse verringert, so dass es kostengünstiger wäre, sich gleich zu einigen. Unser Rationalist, der den Beitritt erwägt, weiß natürlich, dass das Humbug ist, denn erst die Drohung/Durchführung des Streiks zwingt die Unternehmer, sich bei Verhandlungen überhaupt zu bewegen
Ausschlaggebend für die Kampfkraft der Gewerkschaft ist ihre Mitgliederzahl, denn von ihr hängt ab, ob überhaupt ein aussichtsreicher Arbeitskampf durchgeführt werden kann. Global gesehen sank die Mitgliedschaft der Gewerkschaften im letzten Jahrzehnt, konnte sich allerdings in den beiden letzten Jahren bei den großen Gewerkschaften stabilisieren. Gemessen an dieser Situation ergibt sich folgende Abwägung: Wenn die Gewerkschaft schon zu schwach ist, um noch einen Arbeitskampf riskieren zu können, lohnt sich, gemessen an den Kriterien der ökonomischen Entscheidungstheorie, der Beitritt nicht mehr. Ist aber die Mitgliedzahl in stetem Aufschwung begriffen, so brauche ich der Gewerkschaft nicht mehr beizutreten. Denn dann kann ich als Trittbrettfahrer umsonst vom Resultat ihrer Kämpfe profitieren.
Das Problem für den rational denkenden Beitragswilligen besteht aber nun gerade darin, auf der Kurve, die die Mitgliederbewegung anzeigt, genau den Punkt zu treffen, wo der Beitritt zur Gewerkschaft einen optimalen Effekt erzielt.
Dummerweise ist dieser Punkt nicht zu bestimmen, denn er hängt von einem Urteil darüber ab, wie sich die Zahl der Mitglieder in den nächsten Jahren entwickeln wird. Die Sache wäre einfach, wenn man von einem allgemeinen, kontinuierlichen Rückgang der Mitgliederzahlen ausgehen und daraufhin den Gewerkschaften fernbleiben würde. Was aber, wenn die Lohnabhängigen, wie der britsche Arbeitssoziologe Collin Crouch meint, bei der Verteidigung ihrer in der Vergangenheit erkämpfen Positionen, also aus der Defensive heraus, zu stärkeren Kampfmaßnahmen bereit wären als bei gewöhnlichen Verteilungskräften und damit auch die Schlagkraft ihrer Gewerkschaft verstärkten?
Vielleicht ist es doch besser, bei der Frage des Eintritts in die Gewerkschaften der grundlosen getrosten Hoffnung einen Platz einzuräumen.
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