■ Nach den Kommunalwahlen in der Türkei werden nun Islamisten Istanbul und Ankara regieren: Wankt das Bollwerk des Westens?
Wie immer nach Wahlen werden auch nach der türkischen Kommunalwahl die Ergebnisse unterschiedlich interpretiert. Da präsentiert sich die Ministerpräsidentin Tansu Çiller als strahlende Wahlsiegerin, obwohl ihre Partei fast sechs Prozent eingebüßt hat. Unumstritten aber ist: Die islamistische Wohlfahrtspartei von Necmeddin Erbakan hat gewonnen. Sie wird ein Drittel aller türkischen Städte regieren, darunter die kosmopolitische Metropole Istanbul mit ihren zehn Millionen Einwohnern und die Hauptstadt Ankara, die zweitgrößte Stadt des Landes. Was bedeutet dieser Wechsel für Istanbul? Geht von diesen Kommunalwahlen jene Sogwirkung aus, die in Algerien beobachtet werden konnte? Wankt das Bollwerk des Westens zwischen Europa und Asien? Wird auch die Türkei Opfer der islamischen Renaissance? Solche Fragen werden vor allem in Europa gestellt.
Die Türken dagegen interessiert, ob nun die Bordelle in Istanbul dichtmachen müssen? Und ob Alkohol noch frei ausgeschenkt werden darf? Sauberkeit und Ordnung stehen bei Tayyip Erdogan, dem frisch gekürten Bürgermeister von Istanbul, auf dem Programm. Er verweist auf die Erfolge bereits amtierender Bürgermeister seiner Partei. Nur die von ihnen regierten Städte stünden ohne Schulden da und hätten die Korruption effektiv bekämpft. Erdogan repräsentiert den jungen, dynamischen, redegewandten muslimischen Politiker, bei dem man nicht genau weiß, ob dieses Outfit eine Tarnung ist oder einen Generationenwechsel unter den Islamisten ankündigt.
In der Türkei ist ein Streit darüber entbrannt, was es bedeutet, wenn die Wohlstandspartei zu einer Volkspartei wird. Manche Beobachter behaupten, aus ihr werde schon bald eine Art CDU der Türkei entstehen. Eine Partei, die islamische Werte mit den Herausforderungen der Moderne zu verbinden weiß. Daß dies nicht gelingen kann, ist nicht nur eine verbreitete These im Westen, sondern auch aller Vertreter des Westens in der Türkei. Das Establishment reagiert schockiert bis ängstlich. Für sie bedeuten die Stimmengewinne der Islamisten den Anfang vom Ende, die Abkoppelung der Türkei vom Westen, Verrat am Laizismus und an den Maximen des Staatsgründers Kemal Atatürk. Doch hinter dieser Entrüstung verbirgt sich nichts anderes als das eigene Versagen. Vor allem die demokratische Linke in der Türkei tut sich schwer daran, sich den Herausforderungen der türkischen Wirklichkeit zu stellen. Sie deckt einen in jeder Hinsicht bankrotten Staat, flüchtet sich vor jeder notwendigen Erneuerung, wie die Privatisierung maroder Staatsbetriebe oder die politische Lösung des Kurdenproblems, in kemalistische Rhetorik.
Schuld sind nicht etwa die putschenden Militärs von 1980, sondern die Politiker von 1994 in der Türkei, die die grundlegende Erneuerung der Türkei nicht für zwingend notwendig halten. Ihre Konzeptlosigkeit treibt gerade in Städten und Krisenregionen, wo Veränderungen am dringlichsten sind, die Menschen massenweise in die Arme der Wohlfahrtspartei. Sie allein hat es bisher gut verstanden, sich als die eigentlich innovative Kraft in der Türkei darzustellen. Dazu braucht sie kein Programm. Es reichen schon die Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung und die repressive Reaktion der staatstragenden Kräfte. Zafer Șenocak
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