piwik no script img

Walter Benjamin in Moskau

■ Ein wichtige Ergänzung zum „Moskauer Tagebuch“

Das „Interview“, das im folgenden zum ersten Mal im Westen veröffentlicht wird, entstand am 18.Dezember 1926 im Alexander-Herzen-Haus in Moskau. Der Präsident der Akademie der Kunstwissenschaften, Petr Semenovic Kogan hatte das Gespräch zwischen dem Mitarbeiter der 'Vetschernaja Moskva‘ (Moskau am Abend) und Benjamin vermittelt. Der Regisseur Bernhard Reich begleitete Benjamin, der kein Russisch sprach. In seinem Moskauer Tagebuch hat Benjamin sich zu diesem Gespräch über Ablauf und Inhalt einige Aufzeichnungen gemacht. Es wurde allerdings erst knapp vier Wochen später, am 15.Januar 1927, gedruckt, als er schon seine Abreise plante.

Die Moskauer Abendzeitung 'Vetschernaja Moskva‘, die seit 1923 erschien und ihren Leserkreis in dem an Literatur und Theater interessierten Großstadtpublikum fand, wurde zwar von dem Moskauer Bezirkskomitee der KPdSU herausgegeben, hatte aber schon mehrfach Rügen wegen mangelnder parteipolitischer Linientreue einstecken müssen, so daß Benjamins Ausführungen genau geprüft und für eine taugliche Veröffentlichung zusammengefaßt worden sein dürften. Auffallende Zensurspuren in der Wiedergabe des Gesprächs hat Benjamin nicht vermerkt. Vielmehr entsprechen seine ersten notierten Eindrücke den festgehaltenen Reaktionen nach der späteren Veröffentlichung. Seine Freundin Asja Lacis hatte ihm den Artikel übersetzt und wäre vom Anfang „gefesselt“ gewesen. Benjamin selbst fand auch, daß „der Anfang, die Konfrontation mit der italienischen Kunst, gut herauskam“, während die „unsichere“ und „unpräzise“ Art der Erwägung von Paul Scheerbart ihn im Nachhinein nochmals ärgerte. Gerade zwei Tage zuvor hatte er im Tagebuch bedauernd notiert, die „gute Formel“, wie sie in einem Gespräch mit Asja Lacis sich ergab, „nicht in dem Interview zum Ausdruck“ gebracht zu haben.

Trotz allem hoffte er, diese Veröffentlichung könne „im ganzen doch nützlich“ sein und er war zufrieden, daß das Interview mit ihm „sehr groß aufgemacht wurde“, dreispaltig auf einer halben Seite. Diese Eintragung belegt am besten, daß alle in diesem Artikel wiedergegebenen Äußerungen und Bewertungen Benjamins vor dem Hintergrund seiner eigenen Moskauer Absichten gesehen werden müssen, zu denen er erst langsam Distanz bekam. Die Taktik ist durchschaubar, ebenso wie die selbstbewußt gezogene Grenze bei einer Auslegung der Romane Paul Scheerbarts. Deshalb ist dieses Interview, auch in der vermittelten Version des Reporters, eine wichtige Ergänzung und Vervollständigung der Moskauer Materialien.

Erstaunlich genug, daß es bislang nicht gefunden wurde. 1980, in der ersten Edition des Moskauer Tagebuchs, wurde vermerkt, das „Interview“, wie Benjamin es genannt hat, sei nicht im Westen archiviert und die Lenin-Bibliothek habe es nicht zugänglich gemacht. 1985 bei der Aufnahme des Tagebuchs in die Gesammelten Schriften war es immer noch nicht aufgefunden worden und auch der Nachtragsband 1989 läßt nicht erkennen, daß nochmals danach gesucht worden wäre. Die Unzugänglichkeit der sowjetischen Archive kann inzwischen jedoch nicht mehr als Entschuldigung dienen. Da es sich aber um keinen originären Benjamintext handelt, allenfalls um eine Ergänzung und dazu noch aus einer Phase seines Lebens, die ohnehin nicht allzu ausführlich dokumentiert werden sollte, wurde hier offenbar nicht so gründlich wie üblich recherchiert.

Als Benjamin sich vor fünfzig Jahren auf der Flucht das Leben nahm, hatte er nur für einige wenige Papiere Vorsorge treffen können, um ihnen eine Überlieferung zu garantieren. Wieviel dennoch erhalten geblieben ist, eben auch sein Moskauer Tagebuch, zeigt ein umfangreicher Nachlaß. Die im letzten Jahr abgeschlossene Edition der Gesammelten Schriften vermittelt zwar, was alles aufgefunden und zusammengetragen wurde, läßt aber auch keinen Zweifel daran, daß hier allein der „ingeniöse“ Benjamin überliefert werden soll, ein Mythos, der zwischen Marxismus und Kabbala seinen unangefochtenen Platz behaupten kann. Die Lücken sind demnach keineswegs immer nur fehlende Versatzstücke einer Werkausgabe, sie stehen auch für die Desiderate einer unvoreingenommenen Benjaminforschung. Sabine Schiller-Lerg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen