„Wald kann anrollende Lawinen nicht stoppen“

■ Thomas Stucki, Mitarbeiter am Eidgenössischen Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos (Schweiz), über die Ursachen von Lawinen, über Lawinenvorhersagen und Lenkung der Schneemassen

taz: Warum gibt es gerade jetzt so viele Lawinen?

Thomas Stucki: Während der letzten Tage hatten wir Großschneefälle, und vor allem in der Anfangsphase waren die verbunden mit sehr starken Winden.

Löst Neuschnee Lawinen aus?

Neben dem Neuschnee ist der Untergrund entscheidend, zum Beispiel eine harte Altschneedecke, die den zusätzlichen Schnee nicht zu tragen vermag. Dann ist aber auch die Niederschlagsmenge ausschlaggebend, die Temperatur und mit dem Wind entsprechend die Schneeverfrachtungen und die entsprechenden Ansammlungen, die zu schwer werden.

Hat der Mensch durch Abholzungen auch zu der größeren Lawinengefahr beigetragen?

Nein, es gibt Lawinen, die weit oberhalb der Waldgrenze angreifen. Der Wald ist ein natürlicher Lawinenschutz und übernimmt seine Funktion aber nur gegen Lawinenanrisse und nicht etwa gegen Lawinen, die schon im anrollen sind. Die jetzigen Niedergänge sind in Bahnen niedergegangen, wo schon früher Lawinen beobachtet wurden.

Hat sich aufgrund der verbesserten Vorhersagen die Zahl der Todesfälle verringert?

Das ist sehr schwer zu sagen, ob es unsere Warnungen sind. Aber Ausbildung und Aufklärung sind ein Faktor. Was man in den letzten Jahrzehnten beobachten konnte, ist eine Verlagerung zu häufigeren Skifahrerlawinen. Wir haben aber schon seit Jahren einen Mittelwert von 26 Lawinenopfern in der Schweiz, obwohl sich ja heute mehr Leute im Gelände bewegen.

Skifahrer sind ja mittlerweile eher selten in den Alpen, heutzutage fahren mehr Snowboarder, die kaum vor einem Hang mit Tiefschnee haltmachen. Hat diese Mode zu mehr Lawinen geführt?

Es werden viele Lawinen ausgelöst durch Snowboarder, aber wie groß die Relation zu einer Verschüttung ist, können wir nicht sagen, weil die Dunkelziffer groß ist.

Ist es gefährlicher, wenn es kalt oder wenn es warm ist?

Kalte Temperaturen konservieren eher. Wenn man also eine hohe Gefahr hat, nimmt die nur langsam ab. Ein Temperaturanstieg wirkt sich in erster Konsequenz eher labilisierend aus, und es gibt eher Niedergänge. Langfristig ist bei erneuter Abkühlung eine Besserung der Situation zu erwarten.

Helfen die künstlichen Schutzwände und Betonpfeiler, oder ist das Kosmetik für Skifahrer?

Ein Ablenkdamm lenkt schon ab von einem Ortsteil. Oder auch die künstliche Auslösung von Lawinen, mit denen man versucht, Lawinen kontrolliert niedergehen zu lassen, indem man Schnee sprengt.

Sie können die Lawine so lenken, daß nichts passiert?

Das funktioniert. Das macht man auch bei Ereignissen wie jetzt gerade. Bei Großschneefällen versucht man immer wieder mit Sprengungen die Einzugsgebiete zu entladen, damit sich der Schnee nicht zu sehr akkumuliert, sondern portionenweise heruntergeht.

Was halten Sie von Airbags und Verschüttetensuchgerät?

Außerhalb von gesicherten Pisten sollte man unbedingt solche Geräte mit sich führen. Nicht, daß man dann nicht verschüttet werden würde, aber mit dem ABS- Ballon besteht die Möglichkeit, daß man auf der Oberfläche bleibt. Mit dem Suchgerät kann man zum Beispiel durch einen Kameraden sehr schnell geortet werden. Wenn man dann noch eine Schaufel dabeihat, kann der andere ausgegraben werden und so zumindest die Überlebenschance erhöhen. Das muß allerdings in den ersten 15 Minuten geschehen.

Sterben die Menschen an Unterkühlung oder ersticken sie?

Sie ersticken nach 15 Minuten. Die Unterkühlung ist langfristig eher günstig. Wenn man unterkühlt, verbraucht man ja auch weniger Energie: Der Sauerstoffbedarf wird weniger. Wenn die Kombination dann gerade stimmt – also Abkühlung und verringerter Sauerstoffbedarf –, dann kann es sein, daß Personen, die über Stunden verschüttet waren, überleben. Interview: Hilda Asmussen