Wahrheit: 2016
Winston Smith lebt in einem totalitären Überwachungsstaat. Alles folgt genauen Regeln: Liebe wie Arbeit, Leben wie Sprache.
E s war ein klarer, kalter Tag im Februar. Ein großes Chronometer am Haus zeigte exakt elf Uhr sechzig an, als Winston Smith, sein Kinn an seine Brust gepresst, weil eine raue Prise ihm ins Gesicht blies, rasch eintrat, wenn auch nicht rasch genug, weshalb argerlicherweise ein Wirbel griesigen Staubs mit ihm ins Haus stob.
Er schloss seinen Briefkasten auf, entnahm ihm ein regierungsamtliches Papier: „Geliebter Burger! Eine große Gefahr fur unser Alphabet ist gebannt. Eurasien sowie Ostasien haben Ozeaniens mit hochster Prioritat versehenem Vorschlag zugestimmt, im Sinne einer reibungslosen globalen Kommunikation weitere Buchstaben freizugeben. Als erste Maßnahme ist es kraft Beschluss vom Wahrheitsministerium erlaubt, Ä, Ö sowie Ü zu benutzen. Besagte Regelung gilt ab sofort, geliebter Bürger!“
Winston Smith schaute auf seine Uhr, es war eine Minute nach zwölf. Er ging hinauf, vorbei an jenem Anschlag, welcher alle Hausbewohner an ihre wohltätige Kanzlerin erinnerte: „Eure Große Schwester liebt Euch!“ Winston verneigte sich, weil eine Kamera im Plakat versteckt war, ging weiter hinauf, vorbei an einem weiteren Plakat: „Eure Große Schwester sieht Euch!“ – „Ich habe auch nichts zu verbergen!“, sagte Winston gut hörbar fürs Mikrofon.
„Hallo, mein Schatz!“, rief er, als er sein Heim betrat, wo seine Frau aus ihrer Küche lugte. Er nahm sie in seine Arme, schloss selig seine Augen. „Meine über alles geliebte Julia!“
„Julia?!“, kreischte seine Frau, stieß ihn weg, verfärbte sich violett. „Wollt Ihr Julia mal vergessen?! Ich bin Rosy! Seit 32 Jahren Eure angetraute Gemahlin, bestellt, geliefert plus hier an Euch übergeben vom Liebesministerium! Nennt mich bei meinem Namen, Winston!! Sonst …“
„Verfickt plus zugenäht“, kam es einem ertappten Winston lautlos über seine Lippen, womit er zwei weitere Fehler begangen hatte, weil Kalauer ebenso wie schmutzige Wörter öffentlich streng verboten waren – alles Private aber war öffentlich!
Laut sowie für alle in seiner Wohnung angebrachten Televisoren sichtbar artikulierte er also: „Meine geliebte Rosy! Nie ärgere ich Euch mit Absicht. Ich liebe nur Euch!“ Winston erschrak kaum wahrnehmbar, fuhr augenblicklich fort: „Ja, fast so sehr wie unsere Große Schwester liebe ich Euch! Julia, Julia … ich verspreche Euch, ich vergesse sie ganz ficks! Ah!!“
Winston schlug sich an seine hierzu angebrachte Stirn. Hastig rezitierte er alle Großen Losungen: „Unwissenheit ist Macht. Sklaverei ist Freiheit. Krieg ist nur Konflikt.“ Aber er wußte, in wenigen Minuten … nein!! Jetzt hatte er sogar jenes Neuschreib ignoriert, welches als Zeichen von Staatstreue vorgeschrieben war. So? Hatte er wirklich? Moment mal … Nein, nicht er! Ihm waren gar nicht jene Fehltritte unterlaufen. Er konnte sich noch retten! Mit seinem Zeigefinger wies er, als Polizisten seine Wohnung stürmten, auf mich.
Er hatte ein zweites Mal über sich selbst gesiegt. Er rief: „Ich liebe Neuschreib! Ich liebe Rosy! Ich liebe unsere Große Schwester!“ Es war fünf Minuten nach zwölf.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!