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Wahrheit mit Methode

Wie ist Verstehen möglich? Das ist die Frage, der sich Hans-Georg Gadamer ein Gelehrtenleben lang gewidmet hat. Heute wird der Altmeister und Exportschlager der deutschen Philosophie hundert Jahre alt ■ Von Udo Tietz

Mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida führte er Debatten, die zu den anregendsten seit dem Zweiten Weltkrieg zählen

Wenig Exportfähiges hat die deutsche Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht. Dass Hans-Georg Gadamers philosophische Hermeneutik dazu zählt, hat seinen Grund im Bruch, aber auch in der Fortführung von Traditionen. Wie vor ihm Heidegger und Wittgenstein stellt Gadamer das Gespräch ins Zentrum seines Denkens. Im Gespräch versichert sich das Denken einer Zeit, die alle Anzeichen einer Krise trug.

Da wäre der Zusammenbruch des Kaiserreiches, die Selbstzerstörung der Weimarer Republik, die der am 11. Februar 1900 geborene Gadamer als Student und später als Privatdozent in Heidelberg erlebte, der Nationalsozialismus, dem gegenüber er als Philosophieprofessor seine intellektuelle Rechtschaffenheit und seine Freiheit zu verteidigen hatte; da wäre aber auch das Kriegsende und der Wiederaufbau der Leipziger Universität, der Gadamer als Rektor vorstand, die Übersiedlung nach Frankfurt am Main und später dann nach Heidelberg, wo er sein philosophisches Hauptwerk vollendete; und da wäre schließlich der Fall der Berliner Mauer, mit dem der Ost-West-Gegensatz sein Ende und das wieder vereinigte Deutschland endgültig seinen Weg nach Europa fand.

All dies ist fast Geschichte. Selbst die jüngste Vergangenheit erscheint uns mitunter schon zu fern, als dass wir uns problemlos in ein Verhältnis zu ihr setzen könnten – was nach Gadamer eine gute Voraussetzung für eine hermeneutische Besinnung darstellt. Lehrt doch seine Philosophie, dass die Tradition fragwürdig geworden sein muss, damit sich ein ausdrückliches Bewusstsein für die hermeneutische Aufgabe der Aneignung bildet.

Dieses Fragwürdigwerden von Traditionen ist kein Betriebsunfall der Weltgeschichte. Vielmehr scheint es ein typisches Charakteristikum moderner Lebensformen zu sein: Gemeinschaften finden ihre Einheit nicht mehr allein aus Konventionen und Geschichte, sondern immer auch aus bewältigten Brüchen. Wenn es keine Selbstverständlichkeit mehr gibt, dann, so Gadamer, „ist das Verstehen eine Aufgabe und bedarf der methodischen Leitung“.

Seinen Ansatz, im Denken Orientierung zu finden und damit auf die Katastophenerfahrungen des beginnenden Jahrhunderts zu reagieren, arbeitete Gadamer in einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit seinem philosophischen Lehrer Martin Heidegger aus. Die Radikalität von Heideggers Fragen und die schlichte Kraft seines sprachlichen Ausdrucks waren von einer Energie, dass Gadamer der Neukantianismus der Marburger Schule, bei der er als Student angefangen hatte, matt und glanzlos erschien. Heidegger machte nicht nur vor, wie man Aristoteles und die Griechen als Zeitgenossen zu lesen hatte. Er zeigte auch, wie die Philosophie wieder zu den „Sachen selbst“ gelangt – nach einer damaligen Parole könne man nämlich nicht beständig Messer und Gabel wetzen, ohne zu essen.

Dieses Projekt trug den Titel „Ontologie“. Und insofern es innerhalb dieser Ontologie um das menschliche Dasein geht, das sein Sein „immer schon“ versteht, handelt es sich hierbei um eine „Hermeneutik der Faktizität“. Dieser Titel wird zum Inbegriff einer Rückkehr zu den verdeckten „Sachen selbst“ und damit zu einer Abrechnung mit dem Bewusstseinsidealismus der Neuzeit, der mit seiner Ausrichtung am Selbstbewusstsein und an der Idee der Methode den Kontakt zu den lebendigen Menschen in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt verloren hatte.

Heideggers Hermeneutik-Projekt hat sich Gadamer 1923 in Freiburg zu Eigen gemacht. Seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1928 enthielt bereits den Keim jener hermeneutischen Wendung der Ontologie am Leitfaden der Sprache, die Gadamer ein ganzes Gelehrtenleben lang umtreiben wird. Bis es zur schriftlichen Niederlegung seiner Thesen kam, vergingen allerdings noch drei Jahrzehnte. Trotz guter Arbeitsbedingungen als Philosophieprofessor in Heidelberg seit 1949 ließ die große Theorie auf sich warten. Anfangs kam Gadamer gar nicht recht voran. Immer hatte er „das verdammte Gefühl, Heidegger gucke (ihm) dabei über die Schulter“. So blieb ihm das Schreiben lange Zeit eine „fürchterliche Qual“. Gadamer vermisste den Gesprächspartner, mit dem man im Dialog über die Sache redet. Ganz Sokratiker, schob Gadamer das Schreiben immer so lange hinaus, wie es eben gerade ging. Erst im Jahre 1960 erschien sein Hauptwerk unter dem Titel „Wahrheit und Methode“.

Mit diesem Projekttitel hatte es eine besondere Bewandtnis. Seit Wilhelm Dilthey steht der Begriff Hermeneutik für eine Methodologie der Geisteswissenschaften – und Gadamers Werk beginnt zunächst auch mit der Frage nach der rechten Epistemologie der Geisteswissenschaften. Gadamer geht es jedoch gerade nicht um deren erkenntnistheoretische Legitimation, sondern um das, was über den Kontrollbereich der Methode hinausführt. Er glaubt nicht, dass es jemals möglich sein wird, den Geisteswissenschaften das Ideal eines strikten Methodenwissens aufzuzwingen.

Nicht dass Gadamer die Relevanz der neuzeitlichen Methoden in den Natur- und Geisteswissenschaften bestreiten würde. Auch für ihn steht außer Zweifel, dass methodische Sauberkeit eine unerlässliche Bedingung jeder wissenschaftlichen Arbeit ist. Gadamer wendet sich aber gegen die Hypostasierung des „erkenntnistheoretischen Methodologismus“, weil er meint, dass durch diesen Methodenstreit etwas verdeckt und verkannt wird, „etwas, was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt oder einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht“. Was den modernen Wissenschaften und ihren Methoden vorausliegt, ist die menschliche Lebenswelt, die die Gadamersche Hermeneutik im Anschluss an Heidegger in ihrer philosophischen Relevanz entdeckte. Gadamers Hermeneutik bezieht auf das Ganze unserer Welterfahrung, von dem die Wissenschaften und die Philosophie eben nur Teile sind.

In diesem Sinn kann man sagen, dass sich Gadamers Hermeneutik einer philosophischen Bewegung in unserem Jahrhundert eingliedert, die die einseitige Orientierung am Faktum der Wissenschaft überwand, wie sie sowohl für den Neukantianismus wie für den Positivismus selbstverständlich war. Gleichwohl hat die philosophische Hermeneutik wissenschaftstheoretische Relevanz, soweit sie Wahrheitsbedingungen aufdeckt, die nicht in einer „Logik der Forschung“ liegen, sondern ihr vorausgehen.

Die philosophische Hermeneutik ist daher „der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“.

Analog zu Kant stellt die philosophische Hermeneutik eine philosophische Frage: „Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?“ Diese Frage, die zu beantworten sich Gadamers Hermeneutik anschickt, klingt auch heute noch provokativ – zumal Gadamers Antwort von der Annahme getragen ist, dass die philosophische Hermeneutik einen Universalitätsanspruch für sich beanspruchen kann, der ihr mit unterschiedlichen Argumenten sowohl von der marxistisch inspirierten Ideologiekritik als auch vom Dekonstruktivismus bestritten wird.

Mit den Hauptvertretern dieser beiden Positionen, Jürgen Habermas und Jacques Derrida, führte Gadamer Debatten, die wohl zu den interessantesten und anregendsten nach dem Zweiten Weltkrieg zählen dürfen.

Beide, Habermas und Derrida, betrachteten den von Gadamer angesetzten Konsens als durchaus hinterfragbar. Gegen den vertrauensvollen Gesprächsoptimismus der philosophischen Hermeneutik bietet der Dekonstruktivismus das Missverstehen auf und die Ideologiekritik setzt auf die kritische Reflexion, um die gesellschaftliche Kommunikation als Pseudokommunikation und den gesellschaftlichen Konsens als Scheinkonsens zu enttarnen.

Und Gadamer? Aus seiner Sicht befindet sich der Dekonstruktivismus genauso wie die Ideologiekritik in einer schiefen Lage. Der Dekonstruktivismus, weil er das Missverstehen dramatisiert, und die Ideologiekritik, weil sie es versäumt hat, sich über die ideologischen Implikationen ihrer eigenen Ideologiekritik Rechenschaft abzulegen. Hier wie dort wird die Macht der Reflexion totalisiert und in einen abstrakten Gegensatz zur Tradition gebracht.

Während Habermas an der aufklärerischen Einsicht in die Macht der zerstörenden Reflexion festhalten will, die für ihn ein „unverlierbare(s) Erbe“ darstellt, welches „uns vom Deutschen Idealismus aus dem Geist des 18. Jahrhunderts vermacht ist“, meint Gadamer auch heute noch auf den Rechten der Tradition bestehen zu können, da selbst noch die kritischste Reflexion an sie zurückgebunden bleibt. Ohne Rekurs auf jene tragenden Vorurteile ist nach Gadamer weder ein Verstehen noch eine kritische Reflexion möglich.

Ist aber ein solcher Traditionalismus heute überhaupt noch vertretbar? Ist es nicht naiv anzunehmen, dass Verstehen in dieser Welt überhaupt noch möglich ist? Ja, ist es nicht vielmehr das Missverstehen, das den Grund der menschlichen Existenz bildet? Das 20. Jahrhundert scheint zumindest in praktisch-politischer Hinsicht gegen Gadamer zu sprechen. Die meisten Versuche, gegenüber Macht und Gewalt auf den schwachen Zwang besserer Argumente zu setzen, sind gescheitert. Von daher könnte man meinen, Gadamers philosophische Hermeneutik sei widerlegt. Erwies sich doch die Sprache, auf die sich Gadamers Gesprächsdialektik gründet, nicht nur als Ausdruck eines tragenden Einverständnisses, sondern auch als „ein Medium von sozialer Macht“. Sie diente in diesem Jahrhundert nur allzu oft der „Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt“ und ist daher immer auch ideologisch.

Dennoch ist Gadamers Hermeneutik damit nicht widerlegt. Wenn wir es in dieser Welt wirklich miteinander aushalten müssen, wenn es zu einem dialogischen Miteinander keine Alternative gibt – zumindest keine gewaltlose –, dann werden wir uns wohl oder übel auf eben dieses Gespräch einlassen müssen, in welchem nach Gadamer unsere Sprache gründet. Denn etwas anderes als das Gespräch steht uns einfach nicht zur Verfügung, um jene Belange zu klären, um die wir uns nur selbst kümmern können. Und an dieser genuin hermeneutischen Einsicht dürfte sich auch in diesem Jahrtausend nichts geändert haben.

Udo Tietz ist Verfasser des Buches „Hans-Georg Gadamer zur Einführung“, Junius Verlag, Hamburg 1999, 184 Seiten, 24,80 DM

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