Wahn und Freiheit

■ Die 80jährige Dorothea Buck erzählt am Donnerstag im ZKH-Ost wie sie die Foltermethoden der Psychiatrie überlebte und ihre Psychose für sich nutzbar machte

Bei ihrem ersten psychotischen Schub 1936 war Dorothea Buck gerade mal 19 Jahre alt und wurde von ihren hilflosen, wissenschafts- wie institutionengläubigen Eltern ordnungsgemäß in eine Anstalt verfrachtet. Was sollte ein einfacher, lieber Dorfpfarrer auch anfangen mit einer Tochter, die sich für die Braut Christi hält? Dort fing sie bald an, ins Bett zu scheißen, ein Kreuz aus irgendwelchen Bodenlatten über ihrem Körper zu drappieren und sich abends ein Büschel Haare auszureißen, um damit den Hals abzudecken. Wie drastisch, seltsam, irre! – Aber nur auf den ersten Blick. Wer sich in die Gedankenwelt der jungen Frau hineinbegibt, dem wird aller scheinbarer Widersinn schnell plausibel. Denn: Niemand hielt es für notwendig ihr zu erklären, daß (geschweige denn: warum) sie in einem Irrenhaus gelandet ist; und selber darauf kommen konnte sie wohl nicht. Selbstschutz vereitelt gemeinhin derlei unangenehme Entdeckungen. Wie aber sollte man einen Ort deuten, wo Frauen erbärmlichst litten, 23-stündigen „Dauerbädern“und ebenso langen Ganzkörperfeuchtwickeln ausgesetzt waren, Besuchsverbot, Sprechverbot, Insulinschocks (das allerdings erst bei späteren Begegnungen mit dem Anstaltsapparat) und krampferzeugende Spritzen über sich ergehen lassen mußten und an den Nachnamen die Silben –chen und –lein geklatscht wurden, Schmidtchen, Bucklein? Die tief religiöse, dafür nur oberflächlich aufgeklärte jungen Frau interpretierte dieses Reich der sinnlosen Schmerzen als teuflischen Puff. „Und so abwegig war der Gedanke gar nicht, daß ich in einer verzauberten Welt sein mußte.“In der Tat hören sich die perversen Reinigungs- und Klausurrituale der Anstalt um keine Spur vernünftiger an als Voodoo, Exorzismus – oder Dorothea Bucks eigene Rettungsvorkehrungen: Wie kann man sich in einem Puff vor Männer schützen? Logisch, durch den Gestank des eigenen Kots – und das Kreuz. Die rauhe, an der Haut scheuernde Anstaltskleidung ihrer „Feinde“wollte sie einfach nicht am empfindlichen Hals spüren. Die Haare dienten also als Isolierschicht. Reaktionen, die von außen höchst seltsam wirken, bekommen auf einmal einen Sinn, wenn der Kontext bekannt ist.

Und genau das ist die Leistung von Dorothea Bucks erfreulich nüchterner Autobiographie „Auf der Spur des Morgensterns“. Erst sehr spät (knapp 30 Jahre nach ihrem letzten Psychoseschub) wagte sie es, die Innenansicht ihrer Psychose zu zeigen - unter dem Pseudonym Sophie Zerchin. Erstaunliche Ergebnisse brachte sie zutage. Am Gravierendsten: Schizophrenie ist nicht Teil der Psychose, sondern wird erst durch fehlerhafte Behandlung im Psychotiker erzeugt. Die Psychose wird, so Buck, von den allermeisten Betroffenen keineswegs als Auseinanderfallen der Identität empfunden, sondern als ein umwerfendes, doch bereicherndes religiöses Einheitserlebnis – und als Rettung aus dem Sumpf einer tiefen Lebenskrise. Denn wenn alle Gewißheiten auseinanderzufallen drohen, dann hilft nur ein überwältigend starkes Weltbild. Dieses konfiguriert der Psychotiker aus Mythen, Märchen, apokalyptischen Untergangsvisionen und Heilserwartungen. Alle realen Erfahrungspartikel werden dort integriert, vom Verlauf eines Sterns am Nachthimmel, über eine zufällige Begegnung auf der Straße bis zum Krabbeln einer Spinne unterm Kopfkissen. Nichts ist ohne Sinn. Innenwelt und Außenwelt kommen zur Deckung.

Die Psychosen waren bei Dorothea Buck verbunden mit unerschütterlichem Selbstbewußtsein und grandiosen, beneidenswerten Freiheitsexplosionen. Was bedeutet schon Zeit, dachte sie sich's, und warf ihre silberne Kommunionsuhr in einen fremden Garten, lief nackt durch das nächtliche Watt und brach mutig auf zu weiten Wanderungen. Erst die Umwelt und vor allem die herrschende Medizin redete ihr ein, daß Psychose etwas Böses sei, das auf Biegen und Brechen mit Medikamenten unterdrückt werden müsse. Erst dann ist der Psychotiker gespalten!

Dorothea Buck wurde zunächst überfallen von den Visionen eines kommenden Krieges (1936 gar nicht so abwegig). Später schwante ihr (auch das durchaus inspiriert von der Realität) der ökologische Gattungstod. Wer sollte die Welt retten? Na sie. Ganz normale Pubertätsfantasien also. Schließlich war jeder mal Superman.

Doch woher kamen die Fantasien? Dorothea Buck stammt aus einer toleranten, liebevollen Familie. In ihre erste Psychose schlidderte sie hinein aus einer unseligen Verwebung von Glaubenskrise und erster – tückisch-teilerhörter – Liebe. Es muß nicht immer Kindsmißbrauch sein. Das ganz normale Leben reicht zum Verrücktwerden. Die weiteren Schübe wären nicht nötig gewesen. Sie waren Folge verrückter Behandlungsmethoden. Das Abgestempeltwerden als Irre und eine Zwangssterilisation mit zarten 19 Jahren übersteht niemand ungeschoren. Scham und das Gefühl geklauter Lebensmöglichkeiten waren tägliche Begleiter in einer Zeit, wo Männer ihre Frauen zwecks Familiengründung suchten. Noch mehr marterten sie die dämlichen Erklärungen ihrer Krankheit durch die Ärzte. Was sie als sinnige psychische Reaktion erfuhr, wurde als biologische Unausweichlichkeit klassifiert. Erst als sie ihrem eigenen Gefühl traute, die Schübe akzeptierte, deren Wahrheitskern erkannte, waren Minderwertigkeitsgefühl inklusiv Schübe verflogen. So hat sie sich wie Münchhausen an der eigenen Psychose aus der Krankheit gezogen.

„Auf der Spur des Morgensterns“erzählt viel über eine verbrecherisch-einfühlslose Psychiatrie, während, aber auch nach der Nazizeit. Man erfährt, daß sich die Evangelische Kirche schon 1931 für Zwangssterilisation aussprach und zwar ziemlich unverblümt mit darwinistisch-faschistoiden Argumenten. Klar wird, daß die Geschichte der Anstaltspsychiatrie keineswegs eine Geschichte permanenten Fortschritts ist. Positionen, die sich in den 20er Jahren allmählich durchsetzten, zum Beispiel die Beschäftigungstherapie, wurden in den 50ern, also bezeichnenderweise nach der Entdeckung der Psychopharmaka, wieder zurückgenommen.

Vor allem aber ist die Autobiographie ein schlüssiges Argument für Bucks wichtigste Forderung: Bitte keine abstrakte Theoriebildung mehr über psychische Krankheiten, sondern erst einmal den Kranken zuhören! B. Kern

Das sollte man tun am 5.2., 20 Uhr im Haus im Park des Zentralkrankenhaus Ost