Wahlkampf 98: Einzelbewerber: „Einer geht noch rein!“
■ Zehn Einzelbewerber wollen als unabhängige Direktkandidaten in den Bundestag: Oliver Hamann aus Neukölln informiert Wahlmüde: „Politik ist wie eine Fotze, alle wollen rein.“
Einzelbewerber sind in der Regel unbekannte Leute – bis sie ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Wer ist also Oliver Hamann, der im Wahlkreis 257, in Neukölln, als Alleinkämpfer antritt? „Ich bin der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt!“ antwortet der 32jährige selbstbewußt. Warum nicht! Hamann tritt nach der Devise an: „Einer geht noch rein!“
Es ist ein ganzes Bündel von Dingen, die seiner Kandidatur vorausgingen: „Das Fernsehprogramm wurde immer schlechter“, sagt Hamann, der zuletzt als freier Journalist für diverse Fernsehsender gearbeitet hat. Dazu kam eine „innerliche Unzufriedenheit“, die er „mit vielen meiner Generation“ zu teilen glaubt. „Meine Generation hat keinen Bock mehr auf MTV“, so Hamann, „jetzt sind wir dran, das Ruder rumzureißen.“ Auch Neukölln spielt eine Rolle. „Seit etwa drei Jahren wohne ich im meist
gehaßten Bezirk der Stadt“, schreibt er auf seiner Kandidatenseite im Internet. Doch allen „Pseudointellektuellen, Linksnazis, Rechtsökos und Banalpolitikern“ zum Trotz sei Neukölln schön. Die „Freak-Dichte“ eines Bezirks sei ausschlaggebend für dessen Qualität. Und die werde in Neukölln bestimmt von „Bindfädensammlern, Grabbeltischwühlern und U-Bahn-Verrückten“. Dieses „ganz spezielle Potential“ dürfe nicht an den Rand gedrückt werden, sagt Hamann, der offenläßt, ob er der Oberfreak ist. Seinen Neuköllner „Local Hero“ fand er in der taz-Serie „Sind Sie beschäftigt?“, in der ein Alki vom Hermannplatz verkündet: „Ich habe von Rechts wegen überhaupt keinen Bock auf Arbeit.“ Hamann findet: „Das ist genial!“
Der zur Zeit selbst arbeitslose Elektriker („Als Handwerker ist man der letzte Arsch“) will seinen Wählern keinen Wahlzirkus vorgaukeln. „Das ist wenigstens ehrlich“, sagt er. Plakate seien das höchste der Gefühle. Doch ob Sprüche wie „Politik ist wie eine Fotze, alle wollen rein“ oder „Ich besorg's euch“ in Neukölln im Wahlkampfwind flattern werden, hängt davon ab, ob Hamann das Geld dafür auftreibt.
Der Einzelkandidat, der sich von „Chance 2000“ inspirieren ließ, lebt seine Wahlkampfdevise selbst. Nach dem Motto „Wählt von innen und nehmt es nicht so wichtig!“ führt er die Umfunktionierung des Flughafens Tempelhof in einen Ufo-Landeplatz für die „Ernsthaftigkeit“ seiner Politikavancen an und lacht sich selbst schlapp darüber. Hamann sieht sich eher als „informer“ denn als Politiker. „Ich will die Leute informieren, was abgeht“, sagt er. Ob die „Emanzipationsfarce“, die starre Arbeitsvermittlung oder die Folgen des Euro – es müsse Schluß sein mit der „Bauchpinselei“ der Wähler.
Wen also in der Wahlkabine angesichts der vielen Kreuze Panik beschleicht, dem rät Hamann: „Dann sollen sie mir ihr Kreuz geben!“ Warum? Weil neue Besen besser kehren. „Ich bin jedenfalls auf Stand-by“, läßt er wissen. Barbara Bollwahn
wird fortgesetzt
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