Wahlen und Behinderung: Geht doch
Viele Menschen mit Behinderung dürfen nicht wählen. Christian Specht schon und bei dieser Bundestagswahl wählt er zum ersten Mal im Wahllokal.
„Ich bin aufgeregt“, sagt Christian Specht. Er schlüpft in seine Jacke, schnappt sich seine Gehhilfe und fragt laut: „Hab ich alles? Wahlunterlagen, Personalausweis?“ Sonntagmorgen kurz vor halb zehn, ein großer Tag für Christian Specht. Gleich wird der 48-Jährige ins Wahllokal 104 in Berlin-Neukölln gehen und seine Stimme für die Bundestagswahl abgeben. Das erste Mal in seinem Leben direkt in einem Wahllokal.
Christian Specht kann nicht lesen und nicht schreiben, damit gilt er als lernbehindert. Im Gegensatz zu anderen Menschen mit Behinderungen in diesem Land darf Christian Specht wählen. Er wäscht sich allein und zieht sich allein an. Er macht sich selbstständig das Frühstück, geht einkaufen, er fegt seine Wohnung aus. Einmal in der Woche trifft er sich mit Claudia Behrendt, seiner gesetzlichen Betreuerin. Sie verwaltet sein Geld, füllt mit ihm Behördenanträge aus, sorgt dafür, dass der Rundfunkbeitrag bezahlt ist und die Miete pünktlich überwiesen.
Seine weitgehende Selbstständigkeit unterscheidet Christian Specht von anderen Menschen mit geistigen Behinderungen und psychischen Störungen. Rund 85.000 Menschen, die auf eine komplette Betreuung angewiesen sind, sind laut §13 des Bundeswahlgesetzes von Wahlen ausgeschlossen.
Verena Bentele findet das diskriminierend. Sie ist blind, Biathletin, vierfache Weltmeisterin, zwölffache Paralympicssiegerin – und Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Sie sagt: Jede und jeder sollte pauschal ein Recht darauf haben, „sich für die Interessenvertreter zu entscheiden, die ihre Interessen am besten auf Bundes,- Europa- und Landesebene vertreten.“
Wer hat es verhindert?
Seit Jahren kämpft Verena Bentele gemeinsam mit Sozial- und Behindertenverbänden für eine Wahlgesetzreform. Eigentlich sollte in dieser Legislaturperiode beschlossen werden, dass Menschen, die eine „Betreuung für alle Angelegenheiten“ brauchen, wählen dürfen. Doch die Große Koalition konnte sich im Frühjahr nicht auf einen Entwurf einigen. Gescheitert sei das am Widerstand der SPD, sagt der behindertenpolitische Sprecher der Union, Uwe Schumer (CDU). Dem widerspricht Kerstin Tack von der SPD: Die Union habe blockiert.
Als Blinde kann Bentele relativ unkompliziert wählen. Mit Hilfe einer Wahlschablone, die sie auf den Wahlzettel legt, weiß sie, an welcher Stelle welche Partei steht und wer die Direktkandidaten in ihrem Wahlkreis sind. Sie geht allein in die Wahlkabine und füllt dort allein den Wahlzettel aus.
Normalerweise darf niemand außer den Wahlberechtigten in die Wahlkabine. Auch Specht darf niemanden mit hinein nehmen. Deshalb hat er vor ein paar Tagen gemeinsam mit seiner Betreuerin Claudia Behrendt seine Briefwahlunterlagen ausgefüllt. „Ich habe ihm vorgelesen, was wo steht, den Rest hat er allein gemacht“, sagt sie. Kreuze gesetzt, den Brief zugeklebt.
„Das ist nicht behindertenfreundlich“
Vorher haben sich die beiden ein Wahlvideo auf Youtube angeschaut, den Wahl-O-Mat bedient und über die Bundestagswahl gesprochen. Früher, als seine Oma noch lebte, hat Christian Specht mit ihr in einer Kneipe um die Ecke gesessen und die Scheine ausgefüllt. Seine Oma ist vor einem Jahr gestorben, in die Kneipe will Christian Specht nicht mehr. In diesem Jahr will er seine Wahlunterlagen selbst im Wahllokal abgeben.
Er läuft durch menschenleere Straßen in Neukölln, sein Wahllokal ist einen Kilometer von seiner Wohnung entfernt. Es regnet. Christian Specht steigt über Pfützen und eine Baustelle, vorbei an Bauzäunen und durch weichen Sand. „Das ist nicht behindertenfreundlich“, sagt er. „Ich muss mich mal beschweren.“
Im Wahllokal lässt er sich auf einen Stuhl fallen, er sagt: „Ich muss mich ausruhen.“ Der Weg war weit, Christian ist nicht gut zu Fuß. Aber heute ist ihm das alles egal, er will seinen Wahlbrief endlich in die Wahlurne stecken. Danach will er in die taz fahren und dort sein „erstes Mal“ feiern. Im Konferenzraum der Redaktion hat er einen Schreibtisch, jeden Tag kommt er her, hört Blasmusik im Radio und malt. Seine Bilder erscheinen als „Specht der Woche“ regelmäßig im Blatt. Seit 1987 gehört er zu dieser Zeitung, sein Leben ist politisches Engagement. Er setzt sich ein für Minderheitenrechte. Er kandidierte für die Grünen, die PDS, das Neue Forum. Früher war er mit einem Holzmikro auf Demos unterwegs.
Erststimme: CDU
Doch dann sagt ein Wahlhelfer, Briefwahlunterlagen dürften nicht in die Wahlurne, die müssen im Rathaus abgegeben werden. Christian Specht reißt seine Augen auf und ruft: „Da kann ich nicht mehr hinlaufen, das schaff ich nicht.“ Er sackt in sich zusammen: „Das geht doch nicht.“ Was nun?
Kein Problem, sagt ein Wahlhelfer: „Er füllt den Wahlzettel einfach nochmal aus.“ Christian kann nicht lesen, wie soll das gehen, so allein in der Wahlkabine? „Dann gehen Sie doch einfach mit in die Wahlkabine“, sagt der Wahlhelfer zur Reporterin. Das ist doch nicht erlaubt? In Ausnahmefällen schon.
„Puh“, sagt Christian Specht, wischt sich über die Stirn, und setzt sich auf den Stuhl in der Kabine. „Wo steht Christina Schwarzer? Die will ich ankreuzen.“ Schwarzer ist 41, in der CDU und – so wie Christian Specht – im Vorstand der Lebenshilfe, einem Verein, der sich mit der Betreuung von Behinderten befasst. Deswegen wählt Christian Specht die CDU-Kandidatin. „Und wo ist Demokratie in Bewegung?“, fragt er. Hier. Er macht sein Kreuz und sagt: „Man muss kleinen Parteien eine Chance geben.“
Später wird Christian Specht seine alten Wahlunterlagen zerreißen, so wie das der Wahlhelfer angewiesen hat. Als Christian Specht das Wahllokal verlässt, hat der Regen aufgehört. Er greift nach seiner Gehhilfe und sagt: „Geht doch. Aber wegen der Baustelle muss ich mich wirklich beschweren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist