Wahl in Mexiko: Sehnsucht nach dem Alten
Die Mexikaner haben Gewalt und Armut satt. Die Partei des jetzigen Präsidenten Felipe Calderón werden sie deswegen vermutlich abwählen.
MEXIKO-STADT taz | Isalia Sabás Almazán begegnet ihnen täglich: dem Jungen, der sich mit nacktem Oberkörper in Glasscherben legt, der alten Frau, die Kaugummis anbietet, und dem Blinden, der sich singend mit seinem Stock durch die Metro kämpft. Sie muss ihre Pesos nicht in überfüllten Bussen und U-Bahnen erbetteln, aber das Gedränge, die aggressiven Leute und die unerträgliche Hitze kosten auch sie viel Kraft.
Sechs Tage in der Woche ist sie auf dieser Strecke unterwegs, mindestens eineinhalb Stunden dauert die Fahrt aus dem Vorort Chalco in die Viertel, wo die Bessergestellten von Mexiko-Stadt leben, dort, wo die 41-Jährige wäscht, putzt und kocht. „Der Weg ist anstrengender als die Arbeit selbst“, sagt die indigene Frau. Und während sie sich zwischen den Menschen hindurchschlängelt, muss sie plötzlich über ihre eigenen Gedanken lachen: „Am besten wäre es, wenn alle verschwinden.“
Gerade einmal zehn Jahre alt war Isalia Sabás alt, als sie sich mit ihrer Tante aus einer Gemeinde im Bundesstaat Guerrero auf den Weg nach Mexiko-Stadt machte. Seither arbeitet sie als Haushälterin. Vor 25 Jahren ist sie zu ihrer Schwester in das Valle de Chalco gezogen. Hier siedelten sich ab Ende der Siebziger Jahre Landflüchtlinge an, die auf ein besseres Leben nahe der Hauptstadt hofften. Im Jahr 1988 erkor Präsident Carlos Salinas de Gortari die Stadt aus, um sie zum Vorzeigeprojekt der Armutsbekämpfung zu machen.
Am 1. Juli wird in Mexiko ein neuer Präsident gewählt. Die Prognosen (nach Umfragen vom 27. Juni):
Enrique Peña Nieto (Partei der Institutionalisierten Revolution, PRI): 41 Prozent
Andrés Manuel López Obrador (Linksbündnis): 30 Prozent
Josefina Vázquez Mota (Partei der Nationalen Aktion, PAN): 26 Prozent
Gabriel Quadri (Neue Allianz): 3 Prozent
15 Prozent sind noch unentschlossen; 40 Prozent glauben nicht, dass die Wahlen sauber ablaufen; 46 Prozent der mexikanischen Bevölkerung sind ar.
Kontrolliert von der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) sollten alle anpacken: Beamte, Gemeindeangestellte, Stadtteilverbände. Wer es nicht mit der PRI hielt, hatte wenig Chancen auf ein festes Haus.
„Weder Bauland noch Zement“
Also hat sich Isalia Sabás der PRI-nahen Organisation Antorcha angeschlossen. Diese kümmert sich zum Beispiel darum, dass die Bewohner zu einem Dach über dem Kopf und zu Krediten kommen. „Ohne Antorcha“, sagt sie, „erhält man weder Bauland noch Zement“. Zugleich kontrolliert die Organisation, wer etwa auf dem Markt einen Standplatz oder eine Taxilizenz bekommt. Als jüngst der Präsidentschaftskandidat der Partei, Enrique Peña Nieto, auf seiner Wahlkampftour vorbeikam, mobilisierte auch Antorcha. Es galt, Stärke für die PRI zu demonstrieren.
Das war schon so, als die Partei noch in enger Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Militär, Gewerkschaften und kriminellen Gruppen das Land autoritär regierte. Im Jahr 2000 wurde die PRI zwar nach 71 Jahren auf Bundesebene abgewählt, dennoch kann sie weiterhin auf alte Strukturen bauen, in 20 von 32 Bundesstaaten stellt sie ohnehin noch den Gouverneur.
Isalia Sabás konnte nicht zum Wahlkampfauftritt gehen, sie musste arbeiten. Aber Antorcha und andere Organisationen mobilisierten Zigtausende Mitglieder. In den roten Hemden der PRI, Parteifahnen schwenkend, jubelten sie Peña Nieto lautstark zu. Und der versprach, was seine Anhängerinnen und Anhänger hören wollten: ein besseres Transportsystem, mehr Sicherheit und eine Gesundheitsversorgung für alle. Ob sie das glaubt? Isalia Sabás denkt einen Moment nach, dann sagt sie: „Die Politiker haben nie eingehalten, was sie angekündigt haben.“
Nicht nur, dass sie sich bis heute durch überfüllte Busse und U-Bahnen quälen muss. Die 41-Jährige hat zwei Kinder alleine großgezogen. Sie weiß, was es heißt, wenn das Geld fehlt, um zum Arzt zu gehen. Falsche Versprechungen hat sie satt, und als hoffe sie trotzdem auf bessere Politiker, fordert Isalia Sabás entschlossen: „Wir wollen endlich Taten sehen.“
PRI, das kleinste Übel
Auf ihrem Heimweg zeigt die Haushälterin auf dunkle Streifen an den Wänden der Häuser, die gleich neben der lärmenden Autobahn liegen. „Über einen Meter hoch steht hier oft das Abwasser.“ Wenn die Regenzeit kommt, überflutet eine stinkende schwarze Kloake die Straßen von Chalco. „Jahrelang hat die Regierung nichts dagegen unternommen“, kritisiert Isalia Sabás. Dafür wäre Peña Nieto zuständig gewesen. Schließlich war er bis letztes Jahr Gouverneur des Bundesstaates Mexiko. Warum sie trotzdem immer die PRI wählt? „Die PRI ist das kleinste Übel.“
Ist es Überzeugung, Gewohnheit oder Zwang, der so viele Menschen für die ehemalige Staatspartei votieren lässt? Der Stadtteilaktivist Rafael Garfíaz glaubt nicht daran, dass sich so viele freiwillig für die PRI entscheiden, wie die Wahlprognosen voraussagen. Der 27-Jährige hat mit einigen Mitstreitern in einer Markthalle in Chalco ein soziales Zentrum eingerichtet. Zwei kleine Räume, in denen sie kostenlos Englischunterricht geben, Filme zeigen und Graffiti-Kurse anbieten. Immer wieder hört er, dass Parteigänger massiv Druck ausüben, damit die Bewohner die PRI wählen.
„Das fängt damit an, dass sie Nahrungsmittel, Gasflaschen oder Baumaterial verschenken. Häufig werden die Leute aber einfach dazu gezwungen, das Kreuzchen am richtigen Ort zu machen“, erklärt Garfíaz und beschreibt das ausgeklügelte System, mit dem PRI-Aktivisten bereits ausgefüllte Wahlzettel verteilen. Und wer sich nicht an den Mobilisierungen von Antorcha beteilige, müsse ewig auf ein Stück Bauland warten. Für ihn ist klar: „Das korrupte System der PRI hat nie aufgehört zu existieren.“
Rafael Garfíaz ist in Chalco groß geworden. Aus dem Vorzeigeprojekt von Salinas sei nichts geworden, heute zähle die 400.000-Einwohner-Vorstadt zu den ärmsten Regionen des Landes, sagt er. „Schon lange gibt es in Chalco wie in jedem Ghetto Kämpfe zwischen Banden. Aber in den letzten Jahren haben sich auch hier die großen Kartelle breitgemacht.“ Isalia Sabás macht sich ebenso Sorgen wegen der vielen Verbrechen. Erst vor Kurzem seien mehrere Kinder und Jugendliche ermordet aufgefunden worden. „Es wird immer schlimmer, aber vielleicht ändert sich das mit Peña Nieto.“
Viele in Mexiko treibt die Hoffnung, mit der PRI könne es eine „pax mafiosa“, einen Frieden mit den Kartellen geben. Schließlich lief zu Zeiten, als die Partei noch an der Macht war, alles wie geschmiert. Hochrangige Politiker kontrollierten die Drogengeschäfte, korrupte Armeeangehörige und Beamte sorgten dafür, dass der Transport und der Schmuggel von Marihuana, Heroin oder Kokain reibungslos über die Bühne ging.
Miserable Bilanz
Doch seit der Präsident Felipe Calderón von der konservativen PAN im Jahr 2006 das Militär gegen die Mafia mobilisiert hat, herrscht große Verunsicherung. Täglich sterben Menschen im Kugelhagel zwischen Soldaten und Kriminellen, werden zerstückelte Leichen oder Massengräber gefunden. Viele ersehnen die alte Ordnung zurück, und die PAN-Präsidentschaftskandidatin Josefina Vázquez Mota hat große Probleme, zu erklären, warum die Amtszeit ihres Parteifreundes ein Erfolg gewesen sein soll.
Trotz 60.000 Toten, 10.000 Verschwundenen und einem sozial zerrütteten Land. In den Prognosen liegt die Politikerin hinter Peña Nieto und dem Linkskandidaten Andrés Manuel López Obrador.
Lange Zeit schien unumstritten, dass der PRI-Politiker das Rennen machen würde. Auch López Obrador trennten 15 Prozentpunkte von Peña Nieto. Doch in den letzten Wochen holt der Linke zunehmend auf, nachdem Nieto im Fernsehsender Televisa Studenten, die ihn bei einem Auftritt an der Hochschule wegen Menschenrechtsverletzungen in seiner Amtszeit als Gouverneur kritisiert hatten, als bezahlte Provokateure seiner Gegner bezeichnet hatte. Täglich demonstrieren seither Studierende, organisieren Konzerte und andere politische Aktionen.
Den Schönsten wählen
In der Kritik stehen Peña Nieto und das Televisa-Unternehmen, das den Politiker gegen gutes Geld jahrelang gezielt aufgebaut hat. Doch nicht nur im Fernsehen entspricht der smarte Mittvierziger kaum dem Bild eines PRI-Dinosauriers, das seine Gegner zeichnen. Wenn er mit seiner Frau, einer bekannten Schauspielerin aus einer Seifenoper, am Rednerpult steht, gibt Peña Nieto den eloquenten Staatsmann, der Mexiko in eine bessere Zukunft führen wird.
„Wir wählen einfach den Schönsten, wir müssen wir ihn ja die nächsten sechs Jahre im Fernsehen ertragen.“ Wieder muss Isalia Sabás über ihre eigenen Worte lachen. Vor einer halben Stunde ist sie nach Hause gekommen, nun sitzt sie mit ihrer Schwester und den Töchtern am Küchentisch. Auf dem Herd köcheln ein paar Bohnen, im Fernsehen läuft ein Wahlspot nach dem anderen. „Alle fordern dazu auf, wählen zu gehen. Aber wer garantiert, dass mit unserer Stimme gewissenhaft umgegangen wird?“, wirft Schwester Anajeli Silberio Sabás in den Raum.
Wo doch bei der letzten Wahl so viel über gefälschte Stimmzettel und manipulierte Urnen berichtet worden sei. Vielleicht, überlegt sie, bleibt sie deshalb am Wahltag einfach zu Hause. „Denn das ist eine Frage der Würde.“
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