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Archiv-Artikel

„Wachstum muss grün sein“

INTERVIEW JENS KÖNIG UND LUKAS WALLRAFF

taz: 2003 wurde der Sozialstaat abgebaut. 2004, so sagen manche, wird das Jahr des Abbaus der Ökorepublik. Mein Gott, müssen wir uns etwa Sorgen um die Grünen machen?

Reinhard Bütikofer: Die taz? Nein. Vielleicht muss ich mir um Ihre Wahrnehmung der Realität Sorgen machen. 2003 war nicht das Jahr des Sozialabbaus. Wir haben den Sozialstaat reformiert, gerade um seine Zerstörung zu verhindern – eine Zerstörung, die ich als Grüner fürchten würde. Und für 2004 sehe ich auch nicht das Ende der Ökorepublik. Das klingt mir zu dramatisch, denn die Ökorepublik hat starke Bataillone.

Aber das Wachstum feiert sein Comeback. Es kennt keine Grenzen mehr.

In diesem Land hat es drei Jahre lang kaum ökonomisches Wachstum gegeben. Es ist doch nicht verwunderlich, dass sich das im Denken und in der politischen Prioritätensetzung niederschlägt. Diese Gesellschaft ist wachstumshungrig.

In einem Zeitungsbeitrag haben Sie geschrieben: Die Gesellschaft schreit nach Wachstum „wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser“. Warum lassen die Grünen die Gesellschaft nicht einfach schreien?

Wir haben 1990 gelernt, was es heißt, sich einer aktuellen Agenda zu entziehen. Das „Alle reden von Deutschland – wir reden vom Wetter“ hat uns damals fast erledigt. Also können wir jetzt nicht sagen: Alle reden von Wachstum – uns ist das egal.

Und schon schließen sich die einstigen Wachstumskritiker der allgemeinen Wachstumseuphorie an?

Falsch. Wir schließen uns keiner Wachstumseuphorie an. Die Kritik am naiven Fortschrittsglauben ist doch richtig. Ich sage es mal mit Hegel: Wir formulieren eine ökologische Politik, die unsere Wachstumskritik in dreifachem Sinne aufhebt – sie hat ihre Motive bewahrt, ihre Form überwunden und sie auf ein höheres Niveau gehoben. Schauen Sie sich unsere Energiepolitik an, das ist grüne Wachstumspolitik.

Ach so, es bricht nicht das vorökologische, sondern das wahre ökologische Zeitalter an?

Aber gewiss. Eine Wachstumspolitik, die so tut, als könnten wir zurück in die Siebzigerjahre, hätte ökonomisch viel weniger Chancen als eine, die ökologische Innovation bewusst als Stärke nutzt. Der Weg zurück zu Helmut Schmidt wäre der direkte Weg in die Sackgasse.

Zur grünen Gründungsgeschichte gehört die Erkenntnis des „Club of Rome“, dass das Wachstum Grenzen haben muss, sonst geht, ganz platt gesagt, die Welt zugrunde. Das gilt nicht mehr?

Doch. In moralischer Hinsicht – weil wirtschaftliches Wachstum nicht die einzige Dimension ist, nach der man Wohlstand oder gesellschaftlichen Erfolg bemessen kann. Und im schlichten naturwissenschaftlichen Sinn können wir doch heute schon sehen, welche verheerenden Auswirkungen die mangelhafte Klimapolitik der letzten dreißig Jahre für die Menschheit hat. Aber wir haben auch gelernt, dass der Satz „Das Wachstum hat Grenzen“ als Appell nicht reicht. Gerade weil das Wachstum Grenzen hat, müssen wir andere Wachstumskonzepte formulieren, damit wir den point of no return nicht überschreiten.

Bitte? Wachstum ist grün?

Wachstum muss grün sein. Ein Wachstum der Grenzen sozusagen. Es muss mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit vereinbar sein. Mehr gesellschaftlicher Reichtum bei weniger Umweltbelastung oder -zerstörung ist möglich. Nehmen Sie das Beispiel der regenerativen Energien. In der Photovoltaik liegt Deutschland knapp hinter Japan auf Platz zwei in der Welt. Vor wenigen Jahren war die Solarbranche praktisch ausgewandert. Jetzt sind wir technologisch vorne dran und haben damit ökonomische Innovationen durchgesetzt, also Arbeitsplätze geschaffen. Mit grünen Ideen kann man schwarze Zahlen schreiben.

Ihre Kritiker werden sagen: Jetzt kommen die Grünen wieder mit ihrer Solarenergie.

Die Solarenergie und das Windrad sind wichtig – aber wir dürfen uns nicht in einer Nische einmauern. Wir müssen auch mit anderen Branchen kooperieren. Wir wollen zum Beispiel eine Innovationsallianz mit der chemischen Industrie. Diese in Deutschland wichtige Branche hat aus eigenem Interesse große Fortschritte bei der Ressourcen- und Energieeffizienz gemacht. Aber da sind wir noch lange nicht am Ende. Ein anderes Beispiel ist die Automobilbranche. Sie hat, was den geringeren Spritverbrauch betrifft, ein bisschen umgesteuert. Das ist auch ein Ergebnis der Ökosteuer. Weil die Deutschen heute Hightech-Autos mit sinkendem Verbrauch bauen, haben sie auf den Märkten größere Chancen.

Diese neue Lust der Grünen auf Technik, Tempo und Innovation – die zeigen sie doch nur, weil sie Angst haben, immer noch als Socken strickende, technikfeindliche Freaks durchzugehen.

Die Angst ist begrenzt. Für unseren politischen Erfolg sind die Klischees unter den Deutschen, die sowieso nichts mit uns am Hut haben, nicht so wahnsinnig wichtig. Relevant sind die dreißig Prozent, die sich vorstellen können, grün zu wählen. Die müssen wir mit unseren Konzepten zu Wachstum und Innovation für uns gewinnen.

Ihnen ist es egal, dass Jürgen Trittin einer der Lieblingsfeinde der Bild -Zeitung ist?

Wenn sich unsere Gegner mit uns auseinander setzen, zeigt das nur eines: Sie kommen an uns nicht mehr vorbei.

Dem Kanzler können Sie mit Ihrem ganzen Nachhaltigkeitszeug nicht kommen. Schröder will Panzer verkaufen, Atomanlagen exportieren und die Gentechnik von ihren Fesseln befreien. Wohlstand durch Wachstum. Ökologische und ethische Fragen werden nur zugelassen, wenn sie dabei nicht stören.

Viele Sozialdemokraten unterstützen unsere differenzierten Positionen zu Wachstum und Innovation. Da lasse ich mich nicht durch jede Verlautbarung aus dem Kanzleramt auf die Bäume jagen. Nehmen Sie das Beispiel Stammzellenforschung: Dem Kanzler gefällt es vielleicht nicht, aber die Koalition hat keinen Grund, das geltende Gesetz zu ändern. Das Gesetz ist gut. Die deutschen Stammzellenforscher können damit arbeiten.

Der Kanzler sagt „Wir sind hier zu restriktiv“ und meint damit ausdrücklich die Gen- und Biotechnologie.

Das kann Schröder ja sagen. Aber ich sehe derzeit keinen Anlass, mit ihm erneut darüber zu streiten.

In den Weimarer Leitlinien der SPD steht: „Wirtschaftliches Wachstum … muss gesellschaftspolitischen Zielen dienen und (ökologisch) nachhaltig sein.“ „Ökologisch“ ist in Klammern gesetzt. Das heißt doch: Die Grünen kommen bei dem Thema nur am Rande vor.

Der Begriff „Nachhaltigkeit“ umschreibt das Programm schon richtig, egal ob ich „ökologisch“ extra hinzufüge oder nicht. Nachhaltigkeit bedeutet nämlich eine gerechte Verbindung von ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung.

Sie sind ein Meister der positiven Interpretation.

Ich bin optimistisch gestimmt. Die Grünen hatten im vergangenen Jahr so viel Zuspruch wie noch nie, wir haben mit unserem Grundsatzprogramm einen gemeinsamen grünen Faden gefunden, wir sind handlungsfähig, wir bestimmen die Reform- und Innovationsdebatte mit …

Hier lobt ein Parteivorsitzender sich selbst.

Nein, keine Selbstzufriedenheit. Ich habe nur nicht den Eindruck, dass die Partei kurz vor dem Untergang steht.

Dann werden wir nochmal konkret. Können die Grünen den Export der Hanauer Plutoniumfabrik nach China stoppen?

Das weiß ich noch nicht. Aber wir tun alles, was wir tun können. Wir haben Bedingungen formuliert, die eine militärische Nutzung ausschließen. Das hat die SPD-Fraktion ganz ähnlich formuliert. Die Anlage darf nicht in ihre Einzelteile zerlegt werden. Außerdem muss ausgeschlossen sein, dass die Hanauer MOX-Fabrik als Baustein in der Produktionskette von waffenfähigem Plutonium dienen kann.

Wenn die Kriterien erfüllt sind, dann haben Sie nichts mehr gegen den Export?

Oh doch, dann habe ich immer noch etwas gegen den Export, aber dann kann ich ihn möglicherweise nicht mehr verhindern. Aus grüner Sicht ist der Verkauf der Nuklearanlage widersinnig. Den Handlungsspielraum, den uns die rechtlichen Möglichkeiten geben, werden wir deshalb voll ausnutzen. Aber wir machen hier keine Politik nach dem Prinzip „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Diese Bescheidenheit in der Entschlossenheit gehört schon dazu.

Wenn der Export genehmigt wird, dann ketten sich die Grünen am Kanzleramt an?

Woher kommt eigentlich die Lust an der vorweggenommenen Niederlage?

Uns geht es nur um die realistische Einschätzung der Kräfte. Die Grünen können der SPD nie mit dem Bruch der Koalition drohen, nicht mal im Hinterzimmer. Sie haben doch in Wahrheit gar keine Macht.

Die SPD kann auch nicht mit dem Bruch der Koalition drohen. Das wäre die Drohung mit dem politischen Selbstmord. Die Koalition ist gemeinsam zum Erfolg verurteilt.

Noch schlimmer: ein gefesselter Riese und ein gefesselter Zwerg.

Und trotzdem bewegen wir das Land. Ich glaube, dass die notwendigen Veränderungen in diesem Land von der politischen Linken organisiert werden müssen. Rot-Grün kann Innovation und Gerechtigkeit verbinden. Wir würden einen hohen Preis dafür bezahlen, wenn wir uns aus dieser Verantwortung davonstehlen würden.

Beweist nicht gerade die Innovationsdebatte, dass ein schwarz-grünes Bündnis längst nicht mehr den politischen Urknall bedeuten würde, sondern logische Konsequenz der letzten Jahre wäre?

In Baden-Württemberg haben wir 1992 über Schwarz-Grün verhandelt. Was ich damals gelernt habe, gilt heute immer noch: Erst wenn die CDU begriffen hat, dass Modernisierung in Deutschland ganz wesentlich grün buchstabiert wird, fängt sie an, koalitionsfähig zu werden.

Und, hat’s die CDU begriffen?

In Köln vielleicht, aber nicht im Bund. Bevor die Union für uns koalitionsfähig wird, müsste sie Ähnliches leisten, was sie in den Siebzigerjahren geleistet hat, um für die FDP wieder ein Partner zu werden. Damals musste sie die Außenpolitik Willy Brandts akzeptieren. Heute müsste die Union die liberale, offene Gesellschaft und die Politik der Nachhaltigkeit akzeptieren. Davon ist sie noch weit entfernt.

Auch in Hamburg, in Thüringen oder dem Saarland? Da wird in diesem Jahr gewählt.

Von oberflächlichen Farbspielereien halte ich nichts. Soll doch die Union bei der Bundespräsidentenwahl mal einen kleinen Schritt in die Richtung machen, die ich eben beschrieben habe. Soll sie doch eine liberale Kandidatin aufstellen und keinen nationalkonservativen. Das wäre mal eine Probe aufs Exempel.