WIE GEFÄHRLICH IST NEW YORK?

■ Hinter den Kulissen von Kriminalität und Obdachlosigkeit in New York

VON ALEXANDER DILL

Der Leser ist schlechte Nachrichten aus New York gewöhnt: der zweitausendste Mord dieses Jahr, der 33. Taxifahrer ermordet, Überfälle und Einbrüche überall. Und dennoch sind die schlechten Nachrichten oft nicht nur schlecht recherchiert, sondern schlicht unwahr.

Wir schreiben den 4. Dezember. Der Springer-Auslandsdienst ('SAD‘) meldet „Flucht vor der brutalen Kriminalität in New York“. Die Story handelt von Glen Fishman, einem Wissenschaftler im Albert- Einstein-College für Medizin, der angeblich mit Frau und Kindern New York panikartig verließ. In dem Bericht wird er zitiert: „Doch lieber rechtzeitig gehen, ehe man mit einer Kugel im Kopf auf der Straße liegt.“ Er fürchte um sein Leben, wenn er abends die U-Bahn benutze, auf dem Spielplatz habe man seinem dreijährigen Sohn Crack angeboten.

Am 5. Dezember rufe ich von Manhattan aus Glen Fishman an. Ich verabrede mich mit ihm noch am selben Nachmittag im Einstein-College, das in der Bronx liegt. Natürlich nehm' ich die Linie 6 durch Harlem und South Bronx. Ab der 103. Straße bin ich der einzige Weiße im Waggon. Einige farbige Jungs spielen provokant mit den Türen, woraufhin eine in der Nähe der Tür sitzende ältere Chinesin sie auffordert, doch Ruhe zu geben. Sie ignorieren sie. Doch dann geschieht das Unerwartete: Die Chinesin zieht einen der Jungs am Anorak, und fordert ihn barsch auf „Stop it now!“ Wie brave Internatszöglinge stehen sie nun hilflos grinsend herum, alle im Waggon lächeln. Das ist also die gefürchtete Linie 6?

Glen Fishman arbeitet in einem chaotischen Großlabor. Er ist etwa Mitte dreißig, wirkt nicht besonders verängstigt oder schüchtern. Ich übersetze ihm die Story, während er ständig mit dem Kopf schüttelt. „Ich möchte erst einmal feststellen, daß wir nicht wegen der Gewalt nach Scarsdale gezogen sind, sondern damit unsere Kinder einen Garten haben. Uns fehlt New York, besonders meiner Frau.“ Und das mit dem Crack? Nein, nie sei seinem Sohn Crack angeboten worden. Und die Angst in der U-Bahn? Glen ist seit drei Jahren nicht mehr U-Bahn gefahren, also in eben der Zeit, wo die Delikte dort durchschnittlich um 18 Prozent pro Jahr zunahmen. Auch das mit der Pistole will er nicht gesagt haben. Die Reporterin sei von 'Associated Press‘ gewesen. Aha, also hat der Springer-Dienst gar nicht selbst recherchiert.

Am Rockefeller Plaza drängen sich die Zuschauer an der Eisbahn. Ich bin mit Leslie Dreyfous, der besagten Reporterin, verabredet, die mir einen Computerausdruck ihrer Story gibt. Zunächst: Es sind zwei Storys; eine über Leute, die aus New York wegziehen, eine über Hinzuziehende. Leslie, wirkt sehr unsicher. „Schwierig“ seien die Fishmans gewesen, und außerdem sei sie ja erst zwei Monate in New York. Als ich unser Gespräch aufnehmen will, flieht sie sofort. In ihrem Bericht finden sich einige Motive des 'SAD‘- Berichtes. Der Sohn hatte gefragt, was Crack ist, angeboten wurde ihm keines. Die Äußerung mit der Kugel im Kopf stammt nicht von Glen Fishman, sondern von einem gewissen Charlie Clough, der mit seinem Sohn in eine Schießerei geraten war.

Nun ist zumindest die 'SAD‘- Story aufgeklärt, ein Sampler aus einer halben 'ap‘-Story mit etwas Horror-fiction angereichert. Aber wer denkt, daß diese Horrorgeschichten nur die übliche Springer-Sensationshascherei ist, der irrt: Auch seriöse Medien wie beispielsweise die 'Zeit‘ oder auch der 'Stern‘ überbieten sich in Sensationsgeschichten aus der westlichen Weltmetropole.

Wie steht es denn nun wirklich um wirkliche und vermeintliche Gefahr in New York? In der Zentrale der „Metropolitan Transit Authority“ in der Madison Avenue treffe ich Tito Devila, den Pressesprecher der U-Bahn. Fakten: 4 Prozent Rückgang der Kriminalität im Monat Oktober, 3,5 Millionen Fahrgäste pro Tag, 20 Delikte. Mr. Devila: „20 Delikte für die Bevölkerung von Los Angeles, das ist nicht schlecht.“ Zurück in Berlin vergleiche ich diese Zahl mit der Berliner Rate. Durchschnittlich 1,3 Millionen „Betriebszweigbeförderungsfälle“, wie die BVG das Benutzen der U-Bahn nennt, entprechen etwa 450.000 Fahrgästen pro Tag. In den Monaten Juli und August 1990 wurden 195 tätliche Übegriffe in der U-Bahn aktenkundig, also 3,25 am Tag. Während also in New York ein Delikt auf 175.000 Personen vermeldet wird, müssen die armen Berliner damit rechnen, daß jeder 138.000. Fahrgast zum Opfer wird. Dabei sind Diebstähle noch gar nicht mitgerechnet, weil die in Berlin nicht als „tätliche Übergriffe“ zählen.

22.30 Uhr an der 59. Straße in Brooklyn. Gerade hat mir eine chinesische Bibliothekarin aus der Public Library von Brooklyn erzählt, daß sie auf dem Heimweg schon einmal überfallen wurde. Der schwarze Täter nahm ihr alles Geld und entschuldigte sich damit, daß er eine Familie zu ernähren habe. Als sie ihn um einen Dollar für die U-Bahn bat, willigte er ein. „In dieser Beziehung war er nett zu mir“, erzählt sie. In der U-Bahn dann eine Polizeistreife, die allerdings gleich umsteigt. Meine Nachbarin: „Sehen Sie den Mann, der da in der Ecke sitzt. Dort sollte man sich nicht hinsetzen, weil es da die Räuber am leichtesten haben. Setzen Sie sich nur in den Wagen des Zugabfertigers. Ich bin gerade von einem anderen Waggon gekommen, weil dort zwei komische Typen saßen.“ Besonders nachts soll man nicht fahren, sagen mir alle, auch Mr. Devila. Doch der Expreß der Linie N fährt nicht mehr, und ich hänge nun in der 9. Straße fest. Es ist 23.30 Uhr. Als ich in Manhattan in der 42. Straße aussteige, ist es kurz nach Mitternacht. Ich bin der einzige, der aussteigt. Am Ende des Ausgangstunnels sitzen zwei kräftige Schwarze, die Beine so gelegt, daß ich darübersteigen muß. Ohne langes Nachdenken hüpfe ich tänzerisch über das Hindernis hinweg. Beide lächeln mich ironisch an, als wollten sie sagen: „Siehst du, es geht doch.“

Die täglichen Mordberichte in der 'Daily News‘ und in der 'New York Times‘ sollte man sorgfältig lesen, wenn man wissen will, wer wo und wann in Lebensgefahr ist: der schwarze Jugendliche in der teuren Lederjacke, der Dealer, der Junkie, der „Homeless“, fast ausschließlich Schwarze und Hispanos, fast nie Chinesen und Weiße. Es ist ähnlich wie in Sizilien und Kalabrien: Bestimmte Gruppen tragen die Massaker untereinander aus, während für die Touristen wie für die Normalbevölkerung keine wirkliche Gefahr besteht — es sei denn, man gerät zufällig in eine Schießerei wie der vorhin erwähnte Charlie Clough. Natürlich kann man beraubt werden, aber in welcher Großstadt kann man das nicht?

Im Gegensatz zu Berlin und Paris gibt es in der New Yorker U-Bahn keine ausgesprochenen Gangs und auch keine grölenden Randalierer. Im Gegensatz zu Berlin, München und Hamburg sind die Fahrkartenschalter Tag und Nacht besetzt.

Tatsächlich aber werden in New York überall Obdachlose in der U-Bahn geduldet. Sie haben inzwischen sogar ihre eigene Organisation, die United Homeless Organisation (UHO), selbstverständlich mit Adresse. Ein Informationsstand im „Grand Central“ ist jeden Tag besetzt. Ich spreche mit dem 58jährigen Donald Donar, selbst obdachlos. Seine Definition eines Homeless: „Ein Obdachloser ist einfach jemand, der seine Miete nicht mehr bezahlen kann. Warum, das spielt keine Rolle.“ Bis vor drei Jahren war er an einem College Professor für Marketing, Kenntnisse, die er nun für die UHO einsetzen kann. Viele New Yorker beschweren sich über Belästigungen der Homeless, die tatsächlich in Bettelei besteht. In einem Zug durch Brooklyn konnte ich folgende Szene beobachten: Ein weißer Obdachloser betritt den Waggon und erzählt, daß ihm am Freitag die Unterstützung gestrichen wurde. In der Mitte des Waggons kniet er nieder. Zunächst erscheinen die Leute ungerührt, doch auf einmal gibt ihm ein alter Farbiger einen Quarter. 830.000 New Yorker leben derzeit von der Wohlfahrt, doch viele haben immer noch einen Quarter für die Obdachlosen. Nach drei Stationen hat der Homeless drei Dollar zusammen und bedankt sich.

Auf der vornehmen Park Avenue spricht mich ein Obdachloser sehr überzeugend an: „Ich brauche etwas zu essen Sir, sofort.“ Etwa zehn Dollar pro Tag sind der Tribut des reichen Weißen in Manhatten, mit dem man die Armut der Stadtverwaltung ausgleicht. Im Grunde ist es eine Steuer, die direkt den Betroffenen zugute kommt. Kleinere Überfälle können deshalb durchaus als Umverteilung angesehen werden, weshalb ja auch der Rat gegeben wird, mindestens zehn, aber nicht mehr als zwanzig Dollar mit sich zu führen.

Sowohl die Europäer wie ängstliche Amerikaner neigen dazu, die New Yorker Situation zu dramatisieren. In einem Land, wo der Mindeststundenlohn 6 DM beträgt, müssen sich viele woanders holen, was sie zum Leben brauchen. Auch die Universitäten und Krankenhäuser betteln ja ganz offiziell durch found raising, ja, selbst ein ganzer Fernsehsender, der „Channel 13“ bettelt jede Stunde um Spenden — und natürlich die Senatoren, die für ihren Wahlkampf betteln. Tatsächlich wird durch die allgemeine Bettelei etwa soviel umverteilt wie durch das deutsche Steuersystem.

Beim Besuch in New York sollte der Besucher weder Ängstlichkeit noch übertriebenen Mut zeigen. Er sollte nur wissen: Alles, was ihm zustoßen kann, ist eine direkte Umverteilung, die er nicht gewöhnt ist. Deshalb rieten mir die Streifenpolizisten im nächtlichen Brooklyn nur zu einem: keine goldenen Uhren oder Juwelen zu tragen, kein Geld zu zählen. „Take it easy“ — mit dieser Devise bewegt man sich in New York am besten, auch in der U-Bahn.