: WHO für Atomopfer
■ WHO-Jahresversammlung begann mit Tschernobyl-Zwischenbilanz
Genf (taz) – Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert ein Programm zur Langzeituntersuchung der rund 800.000 ArbeiterInnen, die an den Aufräumarbeiten nach dem Reaktorunglück von Tschernobyl vor sieben Jahren beteiligt waren. Anläßlich der gestern in Genf eröffneten 46. WHO- Jahresversammlung zog der stellvertretende Generaldirektor Nikolai Napalkov zugleich eine ernüchternde Zwischenbilanz des vor zwei Jahren eingerichteten WHO-Programms für knapp fünf Millionen Menschen in den verstrahlten Regionen Rußlands, der Ukraine und Belorußlands. Neben dem Thema Tschernobyl beschäftigt sich die zweiwöchige WHO- Jahresversammlung auch mit der Bekämpfung von Aids und Tropenkrankheiten sowie mit dem Zusammenhang zwischen Umwelt und Gesundheit. Am morgigen Mittwoch steht die Wiederwahl des äußerst umstrittenen WHO- Generaldirektors Hiroshi Nakajima für eine zweite, fünfjährige Amtsperiode an.
Im Tschernobyl-Programm der WHO wurden bislang 600.000 Menschen in Rußland, 340.000 in der Ukraine und 200.000 in Belorußland untersucht. Napalkov sagte, das Gesundheitssystem dieser Staaten sei „völlig überlastet“ mit Klagen der Bevölkerung über Krankheiten, die auf den Reaktorunfall zurückgeführt werden. Allein in Belorußland registrierte die WHO seit 1986 insgesamt 187 Fälle von Schilddrüsenkrebs unter Kindern. 1987 waren es erst zwei, 1992 bereits 67 neue Fälle. In den sieben Jahren vor dem Unglück Ende April 1986 wurden insgeamt nur sieben Fälle registriert.
Derzeit werden im WHO-Programm 75.000 Kinder auf Schilddrüsenkrebs hin untersucht und soweit als möglich behandelt sowie weitere 270.000 Menschen in den am stärksten verstrahlten Regionen auf Leukämie und andere Blutkrankheiten. Zudem bemüht sich die WHO, die Fälle von Gehirnschäden bei ungeborenen Kindern zu erfassen. Das langfristige Ziel ist die vollständige Erfassung der Gesundheitsdaten der Menschen in der verstrahlten Region.
Für das von der WHO-Administration geforderte Sonderprogramm für die 800.000 Arbeiter, die nach dem Unfall mit Aufräumarbeiten befaßt waren, fehlt allerdings das Geld. In dem von der Genfer Jahresversammlung zu beschließenden Budget von rund 1,8 Milliarden US-Dollar für die Jahre 1994/95 sind hierfür keine Mittel vorgesehen. 870.000 Millionen Dollar, die in den nächsten zwei Jahren in Form fester Jahresbeiträge der 185 Mitgliedstaaten in die WHO-Kasse fließen sollen, sind für andere Aufgaben festgelegt. Und die eine Milliarde Dollar, die eine Reihe von Staaten ihren Interessen gemäß zusätzlich beisteuern, sind zweckgebunden. Die größten Summem fließen in das Programm zur Bekämpfung von Aids (allein 175 Mio. Dollar) sowie neu oder verstärkt auftretender Seuchen und Krankheiten wie Malaria, Polio und Tuberkolose. Mehr Mittel als in den Vorjahren sollen auch in Programme zur Verbesserung des Trinkwassers und anderer Umweltprobleme in der „Dritten Welt“ fließen. Im Februar waren erhebliche Unregelmäßigkeiten in der Finanz- und Personalpolitik der WHO bekanntgeworden. Eine kurz vor Jahresversammlung veröffentlichte interne Untersuchung entlastet den zur Wiederwahl anstehenden Generaldirektor Nakajima allerdings in dem Skandal. Andreas Zumach
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