WER SOZIALSTANDARDS SENKEN WILL, SOLL DAS EHRLICH SAGEN : Aufbau Ost meint Abbau West
Ganz taufrisch ist die Erkenntnis nicht, dass in Ostdeutschland einiges im Argen liegt. Seit Jahren streiten die Politiker darüber, ob Randregionen zu fördern seien oder industrielle Kerne, ob das Wohl in Großprojekten oder beim Mittelstand liege, wie Abwanderung und Hoffnungslosigkeit zu bekämpfen seien. Stand der Debatte ist in etwa, dass die Wirtschaft dort gestützt werden muss, wo es sie noch gibt, dass in Bildung investiert und der Erfindergeist honoriert werden muss – und dass die Region noch lange an 40 Jahren DDR und der Entindustrialisierung Anfang der 90er-Jahre tragen wird. Deutschland wird die Folgen daraus weiter finanzieren müssen, so ist das nun mal in einer solidarischen Bundesrepublik. Die Klage über die vor allem konsumtive Verwendung der Transferleistungen in den neuen Ländern ist unredlich – als hätte die Republik innerhalb ihrer Grenzen wirklich Zustände wie in osteuropäischen Transformationsstaaten hinnehmen können.
In gleich zweifacher Hinsicht verlogen ist das Gerede von der Notwendigkeit einer Sonderwirtschaftszone Ost. Erstens, weil sie schon längst existiert. Löhne und Gehälter sind im Osten niedriger als im Westen, die Arbeitszeiten länger, die Arbeitsmärkte aufgrund zahlreicher betrieblicher Einzelvereinbarungen flexibler. Zweitens verbirgt sich hinter der Forderung nach einer Entbürokratisierung Ostdeutschlands nichts anderes als der Wunsch nach einer Umgestaltung Westdeutschlands. Das Thema Arbeitszeit ist dafür ein treffliches Beispiel. Vergangenes Jahr scheiterte die IG Metall mit ihrem Streik für die 35-Stunden-Woche im Osten – die Betriebe dort würden kürzere Arbeitszeiten nicht verkraften, hieß es. Heute reden Edmund Stoiber und Heinrich von Pierer von längeren Arbeitszeiten – im Westen.
Ostdeutschland wird somit zu einem ungewöhnlichen Labor, in dem nicht etwa neue Ideen getestet, sondern die Rückkehr zu alten Regelungen geprobt wird. Wer aber die sozialen und ökologischen Standards der Bundesrepublik senken will, der soll nicht über den Aufbau Ost reden und den Eindruck erwecken, in Pritzwalk, Ilmenau oder Bitterfeld würde das gute Geld des Westens versickern. HEIKE HOLDINGHAUSEN