WENN ICH IHRE MILCH NICHT TRINKEN MUSS UND NICHT VERARBEITEN, FINDE ICH MEINE ZIEGEN RICHTIG GUT. DASS ICH IHNEN DAS KRAFTFUTTER VORENTHALTE, NEHMEN SIE MIR ÜBEL: Geh mir weg mit natürlicher Lebensweise
VOGELFLUGLINIE
von REBECCA CLARE SANGER
Laut meckernd kommen mir meine braunen Ziegen entgegengelaufen im Sonnenuntergang, der die gelben Blätter des Heckenhains in rötliches Licht taucht. Jetzt, denn damit sie mich zur Kenntnis nehmen, muss ich laut auf mich aufmerksam machen, wie sie da am hinteren Ende der Weide stehen und das Gras unter ihren Köpfen untersuchen. Ich gehe den Zaun entlang, zum Schalter, den Strom ausschalten. Sie heben ihre Köpfe, als hätten sie etwas gerochen, und sehen ein wenig kurzsichtig in meine Richtung.
Ihre Ohren hängen zu beiden Seiten ihrer eleganten Gesichter und beginnen zu flattern, als die Ziegen endlich losrennen. Sie schreien, nachdem auch ich geschrien habe: „Betty! Balthazar! Emily! Feodora!“ –wie kann es bloß sein, dass sie mich auf diese kurze Distanz nicht haben erkennen können?
„Nicht so dicht an den Zaun, da ist noch Strom drin“, sage ich und gebe ihnen, was ich habe: Äpfel und Gemüsereste, Kirschbaumzweige und Zwetschgen. Seit einer Woche gibt es kein Kraftfutter mehr, weil es Milch treibt: Wir wollen verreisen, deshalb melken wir Betty ab.
Und dann –wenn sie aufgegessen haben, ich noch ein wenig Zeit übrig habe, es nicht zu kalt ist und das Licht gelb unter den Wolken hervorschießt –dann streichele ich meine Ziegen. „Wie geht es dir, Betty?“, frage ich. „Warum hustest du, Feodora?“ Jetzt, da ich ihre Milch nicht mehr trinken muss, finde ich sie richtig gut, meine Gute-Laune-Ziegen. Jetzt, da ich in meiner Freizeit nicht verbissen Ziegenmilchprodukte herstelle, die ich so sehr notgedrungen wie mit gutem Gewissen mit Kuhmilchprodukten supplementiere. Auch wenn meine Ziegen nun also wie zur Zier auf ihrer Weide rumstochern, ist mir das gute Gewissen geblieben, mit dem ich nun gleich zwei Liter Milch, Kuh!, in den Wagen lege und zusammen mit dem Prima-Donna-Käse –gäbe es den überhaupt in bio? –an der Kasse durch den Scanner wandern lasse.
Dass Betty verhältnismäßig sorgenfrei mit ihren Freundinnen auf dem Viereck angemieteten Landes herumspaziert, erlaubt es mir, die Milch von namenlosen Kühen zu trinken. Die Bilder von Kälbern und schreienden Müttern im Kopf bleiben einfach aus. So ist das. So ist die Welt.
Ich denke nach: Wenn wir als vierköpfige Familie ernsthaft unseren Verbrauch an Milchprodukten von Betty und ihren Freundinnen decken lassen wollten, bräuchten wir einen riesigen Tiefkühler, in dem wir die Milch vom Sommer für den Winter aufbewahren könnten. Wir bräuchten auch mindestens noch vier weitere Ziegen, alle zwei Jahre Abnehmer für die Kitze. Wir bräuchten eine Vollzeitarbeitskraft, die Meierei und Melkerei betriebe. Wir bräuchten mehr Land, mehr Geräte und mehr Wissen, sehr viel mehr Wissen. Und müssten wir von dem kleinen Häufchen Ziegenfrischkäse leben, das Bettys Milch und ich in einer Woche hinkriegen: Wir würden hungrig bleiben.
„Bio“ produzieren, das leisten sich andere Menschen, Frauen, zum Beispiel, die Notare zum Mann haben und auch gar nicht davon leben müssen. „Bio“ produzieren Anthroposophen, die sich mit anderen Anthroposophen streiten, bevor ihnen die Frauen davonlaufen, das weiß ich, oder die Angestellten. Vom „Bio“-Produzieren träumen wir als Nachbarn und tauschen das zwanzigste Kilo Äpfel-aus-dem-Garten miteinander. „Eine Verbrauchsgemeinschaftskooperative wie in Amerika“, sagt meine anthroposophische Freundin. „Ein Biodorf.“ Und dann bilden wir immerhin noch eine Fahrgemeinschaft ins Örtchen. In den Supermarkt.
Jetzt, am 8. Tag des Kraftfutterentzugs, ist mir etwas klar geworden: Meinen Ziegen ist diese natürliche Lebensweise, scheints, zuwider. Sie klagen mich an, als wäre ich ihr Vollstrecker. Ihnen ist klar, was ich nicht weiß: Um auf Eingriffe ganz zu verzichten, bräuchte man auch völlige Freiheit. Nur 2.000 kontrollierte Quadratmeter reichen nicht aus für ihre ausgewogene Ernährung. Sie müssten frei durch die Gegend streifen, um zu finden, was sie brauchen. Und das: dürfen ja noch nicht einmal die Menschen.
Rebecca Clare Sanger pendelt mit Mann und Kindern zwischen Hamburg und der dänischen Insel Møn; was sie dabei erlebt, steht 14-täglich an dieser Stelle.
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