Vorwärts in die Vergangenheit

Das jüngste Konzil der russisch-orthodoxen Kirche in Rußland zeigte: Das 20. Jahrhundert hat die Popen noch nicht erreicht  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Am 7. Januar hat das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Alexij II. (56), unter den beifälligen Blicken von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin und Moskaus Stadtoberhaupt, Juri Luschkow, den Grundstein zur neuen Christus-Erlöser- Kathedrale gelegt. Sie dürfte die gewaltigste Kopie aller Zeiten werden. Haargenau abgekupfert werden soll nämlich die Christus-Erlöser-Kathedrale Nr. 1, die sich 41 Jahre lang an gleicher Stelle erhoben hatte, bis Stalin sie 1931 sprengen ließ. Sie war das größte Gotteshaus der russisch-orthodoxen Welt, sozusagen die jüngere und häßlichere Schwester der Hagia Sophia von Konstantinopel. Schon damals erregte der überkuppelte und überladene Kultklotz die Gemüter der Ästheten, erst recht umstritten ist das heutige Projekt.

Kirchenferne MoskauerInnen meinen, die dafür verplanten dreihundert Millionen Dollar könne man besser anlegen, in einer Stadt, in der die Substanz der Wohnhäuser allenthalben bröckelt, die Milchversorgung an verrosteten Kühlketten hängenbleibt und das Metrofahren bald teurer und gruseliger wird als eine Tour auf der Geisterbahn. „Die Gelder, die uns der Staat zuteilt, werden auf keinen Fall von den für Minderbemittelte und Behinderte, für Kultur, Bildung oder das Gesundheitswesen bestimmten Haushaltsposten abgezweigt“, verbürgte sich der Patriarch. Im übrigen riet er den Popen an der Basis, im Hinblick auf ihre eigenen Gotteshäuser zu „effektiven Arbeitskontakten mit den örtlichen Machthabern“.

Versprechen und Rat gab Alexij auf dem Bischofskonzil der russisch-orthodoxen Kirche, das vom 29. November bis 5. Dezember 1994 stattfand. Alexijs Glaubwürdigkeit stand dabei auf den Prüfstand. Noch vor Ende dieses historischen Ereignisses entließ Moskaus Oberbürgermeister Juri Luschkow nämlich den bisherigen Chefarchitekten der Kathedrale aus Wut darüber, daß dieser die Pläne vom Patriarchen eher absegnen ließ, als von ihm selbst.

Zur Hauptaufgabe hatte sich das Konzil „die rechtgläubige Mission in der Welt von heute“ sowie die Formulierung einer sozialen Doktrin gesetzt. Die versammelten Bischöfe und Metropoliten gründeten eine Reihe von Gesellschaften zur inneren Mission. Sie beschlossen, eine Reihe von kirchlichen Texten in einer moderneren Sprache herauszugeben und richteten im gleichen Atemzug eine Zensurbehörde für religiöse Literatur ein. Man will religiöse Bildungsprogramme für alle Schichten der Bevölkerung entwickeln und künftig höhere Ansprüche an die Priesterausbildung stellen. Was auf Außenstehende wie ein bescheidenes aber vernünftiges Resultat des Konzils wirken mag, ist tatsächlich nicht mehr, als eine Notbrücke über ein Meer tobender Leidenschaften.

Von Anfang bis Ende ertönte auf der Versammlung zum Beispiel die Forderung nach einer Abrechnung mit den beiden Priestern Alexander Borisow und Georgi Kotschetkow, die in ihren Gemeinden mit russischen Liturgietexten und aktiver Einbeziehung der Mitglieder in den Gottesdienst experimentieren. Die Kirchenspitze klammert sich dagegen eisern an den Gebrauch der den heutigen RussInnen nur schwerverständlichen kirchenslawischen Sprache – einer Spielart des Altbulgarischen – in der Liturgie.

Der Pastor einer auf russischem Boden neugegründeten methodistischen Gemeinde äußerte im Gespräch mit der Tageszeitung Segodnja den Verdacht, daß seine Schäfchen lieber vor den Toren der Kirche geblieben wären, hätte er ihnen keine Alternative zur russischen Orthodoxie geboten: Diese Leute bräuchten eine einfache und verständliche Doktrin und eine einigermaßen bequeme religiöse Praxis. Mehrstündiges Aufrechtstehen mit unverständlichem Singsang und Gemurmel im Hintergrund fänden sie kaum attraktiv.

In seinem Hauptreferat nannte Alexij II. ein paar Zahlen, die auf den zweiten Blick ahnen lassen, warum er Konkurrenz fürchtet. Auf den ersten Blick allerdings imponiert der Zuwachs an Bistümern der Moskauer Patriarchie seit 1988 – von 67 auf 114. Im selben Zeitraum hat sich die Summe der Gemeinden mehr als verdoppelt, nämlich von 6.800 auf 15.810, wurde die Hälfte der heute 269 Klöster gegründet. Was Alexij aber nicht nennen konnte, ist die Anzahl der Gemeindemitglieder, denn sie werden nicht mehr registriert.

Weniger beeindruckend wirken die aktuellen Ziffern auch nach einem historischen Rückblick. 1917 zählte die russisch-orthodoxe Kirche 54.000 Gemeinden und über tausend Klöster. Zu allem Überfluß sehen sich die Kirchenführer heute mit dem Austritt ganzer Gemeinden in der Provinz konfrontiert, wo sich reformfreudige Popen ihre Bastionen schaffen.

Auf der anderen Seite des Spektrums reift in der russisch-orthodoxen Kirche eine starke fundamentalistische Bewegung heran. An ihrer Spitze steht der Metropolit von Sankt Petersburg, Ioann. Die Ultrakonservativen seines Kreises praktizieren den Schulterschluß mit faschistischen und nationalbolschewistischen Weggenossen. Sie bezeichnen sich niemals als „Christen“ und immer als „Orthodoxe“ (auf russisch: „Rechtgläubige“, homophon mit „Rechtsgläubige“).

Schon vor der Perestroika begannen sich einige der fundamentalistischen Gemeinden zu übergreifenden „Bruderschaften“ zusammenzuschließen. Ausnahmslos fordern sie den Austritt aus der artfremden Ökumene. Aber auch unter ihnen gibt es Gegensätze. Sogenannten „aufgeklärten Fundamentalisten“ distanzieren sich von der Vergangenheit ihrer Kirche als Unterabteilung des KGB.

Ohne Zweifel haben diese Leute mehr im Kopf als die letzten Notierungen der hochstaplerischen Aktiengesellschaft „MMM“ oder das heißeste Modell der Turnschuhmarke Reebook. Noch immer diskutieren sie darüber, „wie man richtig leben soll“, wandern und spielen ausgiebig mit den vielen Kinderchen, die ihnen ihr Glaube beschert, und speisen die wachsende Anzahl von Armen effektiver als so manche offizielle Stiftung. Der Kapitalismus zeigt Rußland zur Zeit nun mal nicht sein schönstes Gesicht. Für diese Menschen folgt daraus die feste Überzeugung, daß ihre Kirche eine spirituelle Wahrheit verkörpert, der der dekadente und feindliche Westen nichts entgegenzusetzen hat. Sogar den Muslimen fühlen sie sich näher.

„Vermittels des Herren Schirinowski will man uns zum ,Sprung nach Süden‘ verleiten, zu einem globalen Konflikt zwischen orthodoxen und muslimischen Völkern. Für Rußland bedeutet das Selbstmord.“ Vor dem Hintergrund dieses Arguments kam es zur einzigen Sensation auf der Versammlung, als nämlich das Plenum den per Tagesordnung vorgesehenen Beschluß ablehnte, Kontakte zu den monophysitischen Kirchen aufzunehmen. So nennt man, neben der armenischen, eine Reihe von Kirchen in Kleinasien, unter anderem die koptische. Den Gegnern der Annäherung – zu ihnen zählt auch die Petersburger Fraktion um Ioann – geht es dabei um eine aktuelle politische Stellungnahme im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt. Das angeführte Zitat stammt ausgerechnet von dem Theologen Kurajew, wie Schirinowski ein Vorkämpfer gegen das Freimaurertum und den Zionismus.

Mit einem ausdrücklichen Bekenntnis des Konzils zur Ökumene konnten sich die Kirchenführer dann wieder durchsetzen. Eine soziale Doktrin formulierten die Bischöfe und Metropoliten auch diesmal nicht. Im innerkirchlichen Streit wählten sie nach außen hin jenen Mittelweg, der in Gefahr und großer Not bekanntlich den Tod bringt. Den Völkern Rußlands beschert er ein stereotypes, altertümelndes Bild von der Orthodoxie. Der Kirchenkolumnist der Zeitung Segodnja, Dimitri Schuscharin, äußerte die Befürchtung, daß die neue Christus-Erlöser-Kathedrale einmal „leerstehen wird, außer an jenen Tagen, an denen die Herrscher des Landes dessen Oberpriester zeremoniell hochachten“. Zumindest diese Befürchtung erscheint unbegründet, werden doch auch die zahlreichen Moskauer StadtstreicherInnen die hohe Kuppel zu schätzen wissen.