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SanssouciVorschlag

■ Vicente Ruiz: „Lulu“

Presse und Hüter der öffentlichen Moral schäumten, sogar die Regierung sah sich zu einer offiziellen Stellungnahme genötigt. Anlaß für die allseitige Erregung war der verhüllende Gebrauch der chilenischen Flagge am ansonsten nackten und am Kreuze hängenden Körper einer Frau. Eine Benefizmodenschau zugunsten der chilenischen Aids-Hilfe gab den Rahmen für diese Performance, einige Kinder, die mit Transparenten für Kondome warben, gaben den Rest. Santiago de Chile, Februar 1992. Auch nach Pinochet ist das Korsett gesellschaftlicher Akzeptanz eng geblieben. Das war nicht der erste Skandal, den der Performance-Künstler Vicente Ruiz mit seiner Arbeit hervorrief, und es wird auch nicht der letzte sein. Der 35jährige ist in seiner Heimat ein ständiges öffentliches Ärgernis. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter des chilenischen „Underground“. Der Begriff wird bis heute benutzt, sowohl zur Selbstbeschreibung als auch zur Diffamierung.

Seit 1982 inszenierte und choreographierte Ruiz mehr als zwei Dutzend Performances. Die meisten wurden nur ein paar Mal aufgeführt, Instant Acts in ehemaligen Autowerkstätten und Busdepots. Zwar ist die offizielle Zensur in den Zeiten „nationaler Versöhnung“ abgeschafft, die soziale funktioniert dagegen besser denn je. Was früher der Staat direkt erledigte, übernehmen heute Presse und Institutionen. Ruiz bewegt sich in den Tabuzonen einer katholisch-machistischen Gesellschaft. Wie viele der „Pinochet Boys“ – die Generation, die unter der Militärdiktatur aufwuchs – bietet er weder Utopien noch Perspektiven, sondern stellt das Wertesystem radikal in Frage. Dabei ist Pornographie für Ruiz ein wichtiges Mittel. „Im Porno werden Körper ohne Seele konsumiert.“ Provozieren will Ruiz mit seiner Trash- und-Sex-Ästhetik nicht – behauptet er zumindest. Für ihn ist das eher der Verzicht auf Heuchelei. Kritik an seiner Arbeit kommt auch von der chilenischen Linken.

Auf Einladung des Goethe-Instituts und des Internationalen Theaterinstituts hält sich Ruiz seit Mai in Berlin auf. Sein Performanceballett „Lulu“, das er mit Berliner Schauspielern erarbeitete, ist das Ergebnis der „anthropologischen Studien“, als die er seine Arbeit begreift. Von der Wedekindschen Vorlage sind in seiner Radikalversion allerdings nur eine Handvoll Texte sowie die Figuren übriggeblieben. Um gesellschaftlichen Kannibalismus dreht sich seine Lesart. „Wir verschlingen alles“, sagt er, „unsere Mitmenschen und unsere Lebensgrundlagen.“ Kritik an seinem Gastgeberland will er damit nicht üben: „Wenn ich eingeladen bin, kann ich mich nicht über den Dreck im Badezimmer beschweren.“ Obwohl seine Arbeit in seiner Heimat ein Politikum ist, sieht er sich nicht als politischer Künstler: „Was ich mache ist riechen. Ich übersetze die Gerüche der Gesellschaft in theatralische Energien.“ Meist ist es heftiger Gestank, der ruchbar wird, zu Hause genauso wie in der Fremde. Gerd Hartmann

„Lulu“, heute und morgen, 20 Uhr, Haus der Kulturen.

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