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SanssouciVorschlag

■ Das Drama der Sprache als Tragödie: Musik!

„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ – so titelte Nietzsche – ist wohl der Grund für das stets innige Verhältnis beider Künste. Das ist mal mehr, mal weniger offenkundig. Am auffälligsten: Oper, dann: Schauspielmusik, Filmmusik, symphonische Dichtung etc. Weniger auffällig ist die Liaison bei Liedern und anderen Gesangsstücken, aber welche Vertonung würde den Text nicht mit dramatischen, ja theatralischen Elementen anreichern?

Daß die Tragödie wirksam ist, auch wenn Sprache ohne „Text“ verwendet wird, zeigt mustergültig György Ligetis „Aventures“ und „Nouvelles Aventures“ für drei Sänger und sieben Instrumentalisten, die eine ganz neue Gattung, das Mimodram, begründen und in den early sixties für einigen Aufruhr sorgten. Grundlage der Vokalproduktion sind 119 Phoneme. Mit etwas Böswilligkeit ließe sich von der Vertonung des Internationalen Phonetischen Alphabets reden. Doch dient es neben der Eigenschaft Quelle von Klangmaterial noch einem zweiten Hauptzweck: semantische Neutralität. Denn hier macht der Tonfall die Musik. Und die Handlung (?!), die Emotionen werden durch die Verflechtung der Sprachlaute mit den Instrumentalklängen und durch das Mienenspiel der Mimen evoziert. Hieran scheitern die meisten Aufführungen. Und tatsächlich wird dieses Referenzwerk der neueren Musikgeschichte kaum einmal aufgeführt. Aber heute abend! Und zwar szenisch, das heißt von einem richtigen Regisseur auf die Bühne gebracht und von den profilierten SängerInnen Sarah Leonard, Linda Hirwst und Omar Ebrahim, eingebettet in das Klanggefüge des nicht minder profilierten Ensemble Recherche, dargestellt.

Weitgehend unverständlich bleibt der Text auch bei Mathias Spahlingers „Vier Stücken“ für Stimme, Klarinette, Violine, Cello und Klavier, und Helmut Lachenmanns Trio „temA“ hat nichts Geringeres als den Atem zum Thema. Flöte und Cello sind gleichermaßen als erweiterter Stimmapparat aufgefaßt. Hauchende, zischende, japsende Geräusche bringen sie in ähnlicher Weise wie Vokalisten hervor, der Flöte fällt dabei die luftgebende Abteilung der Stimmfabrik zu, während die Saiten des Cellos zu den Stimmbändern in Analogie gesetzt werden. Sie bilden zusammen mit der Vokalistin eine heterogene Einheit. Auf dem Programm steht nicht weniger als das Drama der Entstehung der Sprache im Augenblick der Produktion.

Dramatisch ist jede Instrumentalmusik, wenn auch gelegentlich auf besondere Weise. So zum Beispiel Iannis Xenakis Streichtrio „Ikhoor“, dessen Titel auf die durchsichtige, ätherische Flüssigkeit Bezug nimmt, die an Stelle von Blut in den Adern der unsterblichen Götter fließt. Regelmäßig treibt dieses Stück ob seiner schauderhaften Klippen auch ebensolche Flüssigkeit, allerdings weniger ätherisch als salzhaltig, auf die kalte Stirn vermessener Interpreten. Das einzige Gegenmittel: durch innere Glut verdunsten. Und davon wälzt sich der Crew des Ensemble Recherche einiges durchs Geäder. Frank Hillberg

Heute um 19.30 Uhr im Kammermusiksaal, Schauspielhaus.

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