Sanssouci: Vorschlag
■ „Mirad – Ein Junge aus Bosnien“ vom Theater Rotwelsch
Im Sommer 1993 montierte der holländische Kinder- und Jugendtheaterautor Ad de Bont Informationen von und über Jugoslawien zu einem Jugend-Zeitstück. Seit Monaten erreichen uns immer neue Meldungen aus dieser Region, und das Schicksal einer überstrapazierten Betroffenheit, die zur Indolenz wird, füllt schon die Feuilletons. Das Theater Rotwelsch, das de Bonts Stück „Mirad – ein Junge aus Bosnien“ jetzt am Halleschen Ufer aufführt, schafft es, Zeitgeschichte am Einzelfall darzustellen, ohne die Gemüter mit dokumentarischer Beweislast zu erdrücken.
Doch alles der Reihe nach: Die meisten Theaterbesucher sind (freiwillige) Opfer des Flächenbombardements der Fernsehnachrichten. Als der Theaterabend mit der Vorführung eines kurzen Videos beginnt, hat die Inszenierung bereits den Traditionskurs des dokumentarischen Theaters verlassen. In seiner Selbstentlarvung wirkt das Medium Fernsehen hier erhellend und erschreckend zugleich. Zu sehen und zu hören sind die Ergebnisse einer Umfrage, die in Berlin durchgeführt worden ist. Befragt nach den Ursachen des Konfliktes in Jugoslawien, nach der eigenen Einschätzung und möglichen Lösungen, zeigt sich, wie unaufgeklärt und immunisiert dieser Krieg, der eine europäische Metastase ist, von vielen wahrgenommen wird. Die klug vorangestellte Videopassage versucht auszuloten, vor welchem Publikum die Geschichte vom Flüchtlingsschicksal Mirads jetzt zu erzählen sein wird.
Die beiden Flüchtlinge Djuka und Fazila treten auf. Im grellen Scheinwerferlicht wirken sie müde und ausgezehrt. Wie in einer Verhörsituation berichten sie von ihrem Schicksal und von dem ihres Neffen Mirad. Mit dem Leben davongekommen aus der Hölle Sarajevo, blicken sie einer ungewissen Zukunft entgegen. Frei von inszenatorischem Firlefanz und Psychologisierungsversuchen behauptet sich eine aseptische Kälte auf der Bühne. Tagebuchaufzeichnungen und Briefe Mirads sind die Krücken der Erinnerung von Fazila und Djuka. Ihre Berichte sind erschütternd in ihrer Privatheit und Schonungslosigkeit.
Bosnische Flüchtlinge auf der Bühne ... Foto: Dirk Bleicher
Von Mirads 13. Geburtstag ist die Rede. Demonstrativ lud er am 7. April 1993, am Vorabend des Krieges, seine bosnischen, kroatischen und serbischen Freunde zu sich ein. Er wünschte sich Frieden. Während der ersten drei Kriegsmonate sterben seine Mutter, seine Schwester und sein Vater. Er selbst gelangt mit Hilfe seiner Verwandten nach Deutschland. Obwohl oder, genauer gesagt, weil sein Onkel und seine Tante später hier ankommen, kehrt Mirad zu den Gräbern seiner Familie zurück.
Wirksam wird die Chronologie der Ereignisse durchbrochen, indem Fazila und Djuka Berichte ihren eigenen furchtbaren Erlebnisse einschieben. Längere Pausen und schweigsame Gänge markieren vorsichtig die chronologischen Verschiebungen. Auch die reduzierte Körpersprache von Andreina de Martin und Alberto Fortuzzi ist einsichtig: jede theatralische Eitelkeit erschiene hier lächerlich. Wie seltsam entrückt und endgültig das Beschriebene berichtet wird, versetzt das Publikum in eine fast unerträgliche Ohnmacht. Das Medium Theater ruft das Gewissen in den Zeugenstand. Ohne effekt- und gefühlsheischende Details erbitten die Figuren eine Duldung ihrer Existenz.
In Zeiten eines manipulierten Wirklichkeitsverständnisses, gelingt es der Inszenierung von Winni Victor immer wieder deutlich zu machen, wer hier leidet, wie und warum. Erfreulich ist auch, daß sich der Aufführungstext in einem wichtigen Punkt vom Original entfernt: Der endlosen Haßspirale und der Eigendynamik der Rachegefühle wird die Hoffnung auf einen möglichen Neuanfang entgegengestellt. Schließlich gab es den doch bisher noch nach jedem Krieg. Stefan Wieszner
... und in einer Berliner Meldestelle Foto: Erik-Jan Ouwerkerk
„Mirad – Ein Junge aus Bosnien“ von Ad de Bont. Noch am 18.12., 18 Uhr, und am 19.12. im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg. Weitere Vorstellungen in Schulen oder Jugendclubs können vereinbart werden.
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