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■ Stadtspaziergänge durch Mitte vom Frauenzentrum Evas Arche

Abraham Geiger soll einmal mit einem katholischen Priester gegessen haben, der ihn ununterbrochen fragte, wann er denn endlich seine Eßgewohnheiten ändere. Seine Antwort kam prompt: „Am Tage Ihrer Hochzeit.“ Abraham Geiger lehrte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in der Tucholskystraße (heute ein Teil der Humboldt-Universität), die, so wird gemunkelt, nur dank Frau Goebbels etwas länger überlebte. Für die Entbindung ihrer zahlreichen Kinder verlangte sie nämlich nach jüdischen Hebammen und bewirkte, als Gegenleistung sozusagen, die Verschonung der Lehranstalt. Bis zum Sommersemester 1942 wurden die letzten drei Studenten unterrichtet. Dieses und mehr erfährt man auf einem mehrteiligen Stadtspaziergang durch die ehemalige Spandauer Vorstadt, bei dem, entgegen der Ankündigung, durchaus auch Männer willkommen sind. Die Ziele des dritten Rundganges waren Orte jüdischen Lernens und Lehrens einst und jetzt.

Auf dem ersten jüdischen Friedhof von 1672 in der Großen Hamburger Straße liegt Moses Mendelssohn begraben. Nur wenige Grabsteine sind nach der Nazizeit übriggeblieben. Gleich nebenan befindet sich die erste jüdische Freischule Berlins, die 1778 von Mendelssohn zur Reformierung des Schulbetriebs gegründet wurde. „Nach Wahrheit forschen, Schönheit lieben, Gutes wollen, das Beste tun“, heißt es auf einer Wandtafel. Nach 1933 wurden hier zweckmäßigerweise vor allem Fremdsprachen unterrichtet. Zu DDR-Zeiten wurde die jüdische Freischule dann zu einer Handelsschule umfunktioniert, seit zwei Jahren ist sie jetzt wieder eine private und tagtäglich bewachte jüdische Ganztagsschule.

Weiter ging es, vorbei an der großen jüdischen Synagoge in der Oranienburger Straße, an der Jugend-Alija-Schule, die auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete, an dem ersten jüdischen Krankenhaus in der Auguststraße... Nebenbei erläuterte Iris Weiss geistesgeschichtliche Hintergründe: wie sich seit der Aufklärung und Emanzipation der Juden die verschiedenen Richtungen des Judentums entwickelten und sich das Rabbinerbild wandelte – von der Austrittsorthodoxie (Adass Jisroel in der Tucholskystraße) bis hin zum Reformjudentum (die erste liberale Reformsynagoge in der Johannisstraße 16), das schließlich eine Regina Jonas hervorbrachte, die erste Rabbinerin Deutschlands, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde.

Zweieinhalb Stunden dauern diese kostenlose Stadtspaziergänge, an dem am Dienstag – bei glühender Hitze – genau zehn Leute unterschiedlichster Altersklassen teilnahmen. Das Thema ist ja nicht neu, und es gibt auch reichlich Literatur, mit deren Hilfe man sich selbst aufmachen könnte, um dem, was im Stadtbild heute fehlt, nachzuspüren — aber wer macht das denn tatsächlich, und: wer könnte einem dann weitere Fragen beantworten? Henriette Klose

Der vierte Teil des Stadtspazierganges „Orte jüdischen Lebens einst und jetzt“ zum Thema „Orte sozialer Fürsorge, sozialer Ausgrenzung und des Widerstands“ findet heute statt, 18 Uhr, Treffpunkt: Evas Arche, Große Hamburger Straße 30, Mitte. Der ganze Zyklus wird dann ab 9.August wiederholt.

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