Sanssouci: Vorschlag
■ HeimatKlänge 95: Margareth Menezes im Tempodrom
Über der Kurmuschel am Tempodrom hängt in jedem Jahr der Leitspruch zu den Heimatklängen. Diesmal wurden unter der Kuppel neben dem Zirkuszelt Spiegelsplitter angebracht, kleine Quadrate, aus denen sonst die Discokugeln dieser Welt zusammengesetzt sind. Die glitzernden Buchstaben ergeben ein Wort: LusoMania. Mit der Lust am Losertum gemäß dem Jungshit von Beck („I'm a loser, Baby, why don't you kill me?“) hat LusoMania allerdings nichts zu tun. Im Gegentum. In den kommenden acht Wochen geht es rundum, im und am Tempodrom um nichts weniger als die Party- und Protestpopkultur Portugals. Nicht das Urlaubsportugal der Algarve, sondern gewohnt heimatklanggeographisch fern der Euro-Zentren. Ihre Diskopfeile haben die Portugiesen nämlich schon vor Jahrhunderten über die Weltkugel verschossen – von den Schiffen der Vasco da Gamasse aus. Neben Pest und Cholera kamen in Brasilien zum Beispiel Madrigalgesang, aber auch Standtrommel, Gitarre und Akkordeon an.
Heute tut's auch ein „Korg“-Synthesizer: Sehr zum Staunen des herüberschwappenden Reichstagspublikums kommen die ersten Töne des Heimatklänge-Opening-Acts Margareth Menezes' von einer Maschine. Während ihre achtköpfige Rhythmus- Crew das dumpfe Brummen nebenhertrommelnd begleitet, trippelt die Sängerin aus Salvador da Bahia in seltsamen Sechstel- Schrittchen auf die Bühne und ergibt sich dem Beat, der da synkopiert vor sich hin rasselt. Überhaupt hat man zunächst das Gefühl, die Musik müsse mehrere Läuterungs- und vor allem Ordnungsstadien durchlaufen, bis dieser gewisse Brazil-Schnalz zustande kommt. Menezes jedenfalls braucht 40 Minuten, bis sie Herrin der Sache und des Groove wird, der bis dahin wie frisch gezappt von Merengue zu Salsa, Rumba, Lambada, Samba und Bossa springt. Eine Art Endlosfusion. Interessanterweise fällt das alles in einer Coverversion der Queen-Ballade „Love of my Life“ zusammen, die Menezes ohne Kommentar in Erinnerung an den an Aids verstorbenen Sänger Freddie Mercury singt. Danach klingt sie ein bißchen heiser, dann ist Pause.
Das zweite Set ist – auch das hat schon Heimatklänge-Tradition – wie ausgewechselt. Prächtiger Sound, geschmeidige Trompeten der alten Herb-Alpert-Schule, und auch Menezes braucht gar nicht mehr zu brüllen, damit die Band ihr zuhört. Was Brasilien aus der Binnenperspektive weiterhin vom Easy-Listening unterscheidet, ist die Unmittelbarkeit, mit der die Musik umgesetzt wird. Keine dekadenten Schnulzen-Füllsel in der Art von Astrud Gilberto, kein dahingehauchtes Cocktail-Leid; statt dessen hymnische Grandezza à la Elis Regina, Befreiungssalsa und noch eine Coverversion: Mit „No Woman, No Cry“ verneigt sich Menezes vor Bob Marley. Natürlich ist der Abend wieder viel zu kurz. Harald Fricke/Andreas Becker
Bis Sa., ab 21.30, und So. beim Werkstattkonzert um 16 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten
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