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SanssouciVorschlag

■ „Unter Brücken“: Schippern mit dem Chamäleon-Varieté

Der Wald steht schwarz und schweiget, und aus den Spreewiesen steigt dichter weißer Kunstnebel. Anmutig schwingt Verena Blank vom Trapez, daß sich die Äste biegen. Ein paar Meter weiter am Ufer hat Bady Mabdalla eine gewagte Konstruktion aus Ziegelsteinen aufgebaut, um halsbrecherisch im Handstand darauf herumzuturnen. Geheimnisvoll plätschert die Spree, aus den Lautsprechern der „MS Schöneberg“ tönt exotisches Zirpen, Schwirren und Trommeln. Das Chamäleon-Varieté ist unterwegs im Großstadtdschungel.

Die Passagiere der knapp vierstündigen abendlichen Spreefahrt „Unter Brücken“ begegnen auf ihrer Tour vom Berliner Dom bis zum Schloßpark Charlottenburg und zurück zahlreichen großen Persönlichkeiten der deutschen Geschichte: Honecker, dem Alten Fritz, Kohl sowie Christo & Jeanne- Claude beim Liebesspiel.

Wichtigster Special Guest des Programms ist jedoch der Vollmond. Obwohl ihm das Klatschen und Anheulen der Zuschauer eigentlich auf die Nerven gehen müßte, gießt er sein mildes Licht so freundlich wie unparteiisch über hervorragende Artisten, passable Jongleure und doofe Conférenciers. Denn Chamäleon- Chef Hacki, der die Pingpongbälle und seinen Gummihaifisch selbstverständlich nicht zu Hause lassen konnte, hangelt sich als erster Offizier und Stadtbilderklärer von einem schwachen Gag zum nächsten. Berlin wird wegen seines Reichtums an Baustellen zu „Kranistan“ erklärt, und unter einer „Lachbrücke“ soll darüber kräftig abgelacht werden.

Die Scherze des zweiten Conférenciers Eckhart von Hirschhausen sind zwar fast noch schlechter verdaulich (so empfiehlt er frischgepreßten Knäckebrotsaft zum Frühstück), dafür kann er jedoch perfekt zaubern: Gummibänder verschlingen sich auf mysteriöse Weise, Geldscheine kriechen in Filzstifte, Karten schmelzen durch Plastiktüten. Als es kälter wird, geht die Show in drangvoller Enge unter Deck weiter. Unerschrockene Kellner balancieren Biertabletts auf den Fingerspitzen durch die schiebende Menge – ein erstklassiger Jonglage-Akt.

Draußen rauscht derweil das Ufergras, es schauen die Bäume, und irgendwann läßt die Sängerin Rebecca Steinberg einen Augenblick vom Singen ab und rezitiert ein unvollkommen auswendig gelerntes Eichendorff-Gedicht. Die mondbeglänzte Zaubernacht wird immer schöner und wäre den erheblichen Fahrpreis sicher wert, wenn die Musik öfter schwiege. Aber Sängerin und Band können leider auch zaubern und beamen die Zuhörer ihrer Jazz-Interpretationen machtvoll ins Kurhaus von Travemünde. Aber da ist es ja auch ganz schön. Miriam Hoffmeyer

Nur noch heute abend, Treffpunkt 20 Uhr, Chamäleon-Varieté, Rosenthaler Straße 40/41, Mitte, Tel. 282 71 18

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