piwik no script img

Vorschlag

■ J.M.R. Lenz: der James Dean des 18. Jahrhunderts

Georg Büchner hat eine unglaubliche Geschichte über ihn geschrieben, er selbst und seine Werke waren für fast 150 Jahre völlig vergessen, und erst Brecht hat den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz mit der Neubearbeitung seines „Hofmeisters“ wieder aus der Versenkung hervorgekramt. Richtig berühmt wurde Lenz dann in den 60er Jahren, wegen seines sozialen Engagements und seines leidenschaftlich-wild-wirren Lebens. Inzwischen ist er für Germanisten so etwas wie der James Dean des 18. Jahrhunderts, und seine frühen, genialischen Werke, die er ausgeglüht und physisch und psychisch krank mehr als 15 Jahre überlebte, sind ihrer Form nach so hochmodern, daß es fast schon unheimlich ist. Kurze, stakkatohaft aneinandergesetzte Szenen, die schon allein aufgrund der Vielzahl ihres Personals jede Hoffnung auf eine einheitliche Handlung ad absurdum führen.

Jetzt hat sich Götz Zuber-Goos von der Studiobühne der FU Lenzens selten gespielten „Hofmeister“ vorgenommen und in der Kulturfabrik Theaterdock eine sehenswerte Inszenierung vorgestellt. Wer meinte, was bei Lenz naheliegend ist, einen grellbunten Clownszirkus à la Castorf vorgesetzt zu bekommen, sieht sich getäuscht. Kein wildes Rumgeschreie, das bei den Epigonen des Meisters oft nur die eigene Unfähigkeit zudeckt, sondern ein fein austariertes, zwischen drastischer Karikatur und Ernsthaftigkeit changierendes Spiel. Das Drama wird erzählt, und zwar ganz, und das recht flüssig. Doch irgendwann ist dem Regisseur die Puste ausgegangen. Er hat Lenz ein bißchen zu ernst genommen. Das Tempo der ersten Stunde kann nicht beibehalten werden. Zu genau, zu ausführlich wird erzählt und damit an Lenzens Drama vorbeiinszeniert. Das Tempo, mit dem sich für den Leser die Ereignisse häufen, überschlagen und am Ende die Vielzahl der wirren Handlungsfäden zu einem chaotischen Knäuel zusammengebunden werden, das kommt bei Zuber-Goos schlichtweg nicht rüber. Die Selbstkastration des Hofmeisters, der Sturz in den Teich samt wundersamer Rettung des Mädchens Gustchen, die Versöhnung von insgesamt vier Familien – bei Zuber-Goos vermittelt sich der Sarkasmus des Geschehens nicht so recht.

Es gibt einige wunderbare und sehr gut eingesetzte Regieeinfälle. Wilfried Poerschke zeigt den Wenzislaus als konsequenten Theo-Lingen-Verschnitt. Graf Wermuth, im historischen Kostüm, hat auf der Jagd nach dem flüchtigen Läufer auf einmal einen Humphrey-Bogart-Hut auf dem Kopf. Von solch schönen medialen Verspieltheiten gibt es manche, und ein paar mehr davon hätte die insgesamt gelungene Inszenierung des Dramas, das offensichtlich nicht unter wilden Regieeinfällen begraben werden sollte, schon vertragen. Michaela Schlagenwerth

„Der Hofmeister“, 6.–28. Januar, jeweils Do.–So., 19.30 Uhr, Theaterdock, Kulturfabrik Lehrter Straße 35, Tiergarten

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen