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SanssouciVorschlag

■ Alltag sammeln: Gerhard Polt mit „Bayern Open“ im Tempodrom

„Anni, hau d' Cassett'n nei, a Tourist sitzt in der Gaststubn!“ In Oberbayern, wo eine sumpfige Kuhstallprovinz gnadenlos zur Hochleistungsregion auffrisiert wurde, grassiert die Schizophrenie. Die Dorfmusikanten arbeiten heute bei Digital Equipment oder im Möbelcenter, der Großbauer sitzt in der Landesbodenkreditanstalt, und erst am Wochenende geht es mit Suzuki-Jeep und Snowboard auf die Autobahn und auf die Suche nach dem Bild einer „Heimat“. Dr. Brezner, Rudi Löhlein, der Gschwendner Mike und Frau Kuschmelka, oder wie Gerhard Polts Figuren noch heißen, träumen von einer bayerischen Urharmonie, doch je mehr sie zwischen Zukunftsdruck und Traditionsstreß strampeln, desto unerreichbarer wird sie.

Griesgrämig steht Polt auf der Bühne, im Trachtenjanker und mit gelben Joggingschuhen. Er kommentiert nicht, sondern sammelt Alltag und verdichtet ihn. Und das ohne augenzwinkerndes Einverständnis mit dem Publikum, auf der richtigen Seite zu stehen. Er triumphiert nicht angesichts der Dummheit, sie macht ihn nur noch trauriger. Und er hat es nicht nötig, die Tragikomik auf Pointen zuzuspitzen, sondern läßt einen mit der Beschreibung allein. In den letzten Jahren hat Polt der zunehmenden Verfettung Bayerns durch anhaltenden Erfolg Rechnung getragen und sich von den Kleinbürgern abgewandt. Heute führt er aalige Typen aus dem Münchener Amigo-, Neureichen- und Spekulantenmilieu vor, und daß diese dabei immer öfter selbst im Publikum sitzen, ist beiden Seiten herzlich wurscht.

„Bayern Open“ heißt das neue Programm, mit dem Polt heute abend im Tempodrom gastiert. Mit dabei ist wie immer die Biermösl Blosn, die mit ihrer Rückbesinnung auf die kunstvollen wie subversiven Wurzeln der Volksmusik seit Jahren gegen die Mitklatsch-Monokulturen im Musikantenstadl anspielt. Doch während Polt, der Fatalist, die bayerischen Verhältnisse lakonisch auf die Bühne stellt, haben bei der Biermösl Blosn immer die „Betonpflatscher und Wisendandler“ schuld, und das ist, auch zu virtuosem Zitherspiel, manchmal ein wenig platt. Ganz so simpel ist die rastlose bayerische Volksseele nicht gestrickt. Wie eine der Poltschen Figuren sagt: „Ois deans zubetonieren, der Bergwald rattert abi wie a Rollo. Des kann doch net oiwei so weitergehn. Es muß endlich amol a Revolution her. Und deshalb wähl ich auch diesmal wieder die CSU!“ Jörg Häntzschel

Heute, 20 Uhr, Tempodrom, In den Zelten, Tiergarten

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