■ Vorschlag: Stern sucht Sternchen: Autokonzern appelliert an AmateurkünstlerInnen
„Poesie muß von allen gemacht werden“ war der Titel einer Wanderausstellung aus dem Jahre 1969, die sich zeitgemäß bewegt an den Grenzen des elitären Kunstbetriebs abarbeitete, um den verhinderten Künstler in uns allen zu erreichen. Was der Kunst aus eigener Kraft bisher nicht gelang, die Überführung ins Leben, das gelingt dem Markt und der Werbung zunehmend besser. Wir schreiben das Jahr 1996, und zwischen 19. und 27. Oktober wird Berlin zum Wallfahrtsort unzähliger Blechfetischisten, die zur Automobil-Ausstellung pilgern. Was das mit Kunst zu tun hat? „Für ihren Messeauftritt sucht die Mercedes-Benz AG noch Mitwirkende aus Berlin und Brandenburg. Amateurkünstler und Laiendarsteller sind herzlich willkommen, zum rezitieren, musizieren und imitieren.“
Nun kann natürlich nicht jedes versteckte Talent einfach so auf den Messestand stürmen und seine wie auch immer geartete Kunst unterm Stern präsentieren. Im Vorfeld der Messe werden die potentiellen AkteurInnen von einer „namhaften Jury gecastet“, sprich: ausgewählt und zugelassen. Damit ist nun allerdings keine künstlerische „Qualitätssicherung“ verbunden, die letztlich nur semiprofessionellen KünstlerInnen Chancen gewähren würde.
Sebastian Feder, Mitarbeiter der beauftragten Veranstaltungsagentur, betont die Möglichkeiten, die auch AmateurInnen in allen Bereichen geboten werden. Auswahlkriterien für die gesuchten 500 KandidatInnen seien lediglich kein „schlechter Geschmack“ und das Interesse der Veranstalter, eine gewisse Vielseitigkeit in den Darbietungen sicherzustellen. Penispantomime und Zotenzauber werden also schlechte Karten haben, aber auch für „Polit-Happenings“ und Tiernummern sieht es nicht gut aus – für letztere aus rein organisatorischen Gründen. Bisher haben sich, so Feder, vor allem freie Theatergruppen vorgestellt, darunter etliche Laien ohne jegliche Bühnenerfahrung. Feder legt Wert darauf, daß es nicht um eine „perfekte Show“ gehe. Und um bei manchem Neuling dem Lampenfieber vorzubeugen, werden die Auftritte, die durchschnittlich eine halbe Stunde dauern sollen, von „schlagfertigen“ ModeratorInnen betreut und von einem Regisseur koordiniert.
Übrigens befinden sich auch unter den „ÖffentlichkeitsarbeiterInnen“ noch unentdeckte Dichterlichter, die das unvergleichliche Motto der Veranstaltung in Reime bannten: „Spielen Sie uns gegen die Wand. Auf unserem Messestand.“ Ich (noch verkannt) ergänze: Bestand hat nur der Debütant, der elegant und auch charmant, nicht penetrant und arrogant, schon gar nicht wie ein Flagellant, doch unbekannt und fulminant das Abendland markant entspannt. Thorsten Pannen
Bewerbungen bis 10.10 unter Tel.: 701 822 22
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