■ Vorschlag: Madonnenhaft: Hanna Schygulla singt in der Bar jeder Vernunft
In Fassbinders „Lilli Marleen“ kam sie nie dazu, ihr Lied in Ruhe zu singen. Die private Uraufführung in einer Münchener Kneipe mündet in einer Massenschlägerei, in die Schallplattenaufnahme platzt die Nachricht vom deutschen Überfall auf Polen, bei der offiziellen Weltpremiere im Soldatensender Belgrad dröhnen die Geschütze, auch der Auftritt im Berliner Sportpalast wird von der Geschichte überrumpelt.
In der Bar jeder Vernunft singt Hanna Schygulla „Lilli Marleen“ als Zugabe am Schluß ihres Chansonabends. Die Sentimentalität gehört dazu. Schygulla hat keine tolle Stimme, aber eine schöne, volle Mittellage, die nach oben hin leicht verhaucht oder einfach wegkippt. Ihre Mimik sucht stets das große Pathos, die Theatralik der großen Diva. Weit aufgerissene Augen, ausgebreitete Arme, expressive Gesten. Ob weniger mehr gewesen wäre, kann man bei ihr
nicht sagen. Wie schon bei Fassbinder, so ist sie auch auf der Bühne eins mit ihren Manierismen. Manchmal pustet sie zu laut ins Mikrophon, das macht sie sehr sympathisch.
Hanna Schygulla singt Texte von Rainer Werner Fassbinder und Jean-Claude Carrière, vereinzelt auch Baudelaire, Thomas Bernhard oder Heiner Müller. Vertont hat sie der französische Film- und Theaterkomponist Jean-Marie Sénia, beim Auftritt ein unerschütterlicher Profi. Sie selbst ist anfangs nervös, erinnert an ein Kind, das zum ersten Mal vor Gästen im Wohnzimmer auftritt. Die „Bar jeder Vernunft“ ist ja auch heimelig, und niemand will ihr Böses. Richtig gut ist sie, wenn sie in Müllers „Es war mal ein Kind“ von abgehackten Kinderhänden singt, oder in „Les Nouvelles Têtes“ nach Thomas Bernhard von alten Menschenköpfen in Plastiktüten. Da wirkt sie wie eine Hexe mit ihrem einarmigen schwarzen Abendkleid und den streng zurückgekämmten Haaren. Aber die großen Gefühle, Schmacht und Schmalz gehören halt auch dazu. Bei Fassbinder-Texten (“Liebe ist kälter als der Tod“, „Ich bin der Schnittpunkt zweier Geraden“) mag das hinkommen, bei weltanschaulichen Gebilden von Jean-Claude Carrière weniger: „Ich hab' so eine Ahnung, daß die, die alles haben, denen, die nichts haben, nichts abgeben werden...“ Eigentlich müßte so etwas peinlich wirken, im Verein mit Schygullas madonnenhafter Münchener Abgehobenheit aber nicht. Gegen Ende greift sie das Mikrophon und umrundet das Spiegelzelt. Dabei singt sie weiter, lächelt wissend, etwas daneben, ein bißchen high, würdevoll und unbeirrbar Schygulla. Katja Nicodemus
Hanna Schygulla „Chansons“, Nächste Vorstellung: Freitag, 20.30 Uhr, Bar jeder Vernunft, Schaperstraße 24
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